80. Charlie: Dunkelheit

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Konzentriert sah ich auf meine Hände, versuchte, meine Krallen entstehen zu lassen, doch verzweifelte daran, dass meine Finger weiterhin menschlich blieben. Boris hatte mir zwar deutlich gemacht, dass er mich als Mensch nicht weniger liebte, doch trotzdem war es schwer für mich, mich mit meiner Lage abzufinden.

Vor nicht allzu langer Zeit noch war ich einer der mächtigsten, der stärksten, der gefürchtetsten Vampire dieser Zeit gewesen, doch nun war ich einfach nur noch ein Mensch, schwach, emotional, ängstlich.

Ich hatte mir über die Jahrhunderte genügend Feinde angehäuft, die nun nur darauf warten würden, sich an mir zu rächen, doch verteidigen konnte ich mich so nicht mehr. Und wen sollte ich denn um Schutz bitten? Boris? Raphael? Benedikt? Boris war nicht mal in der Lage, sich im Kampf selbst zu schützen, Raphael hatte andere Sorgen und Benedikt war nicht länger mein König und wohl auch nicht länger mein Freund, nachdem ich kein Vampir mehr war. Im Grunde stand ich alleine da.

Ich hasste es, ein Mensch zu sein... Diese ganzen Gefühle, die Schwäche, die Abhängigkeit, der Toilettengang... Ich konnte mich gar nicht entscheiden, was davon am schlimmsten war.

Ich denke, mein größtes Problem war es, dass ich mich selbst nicht mehr wiedererkannte. Früher wusste ich, wo meine Stärken und Schwächen lagen, wusste, wie ich damit umzugehen hatte, doch das alles hier war komplett neu für mich und mir blieb keine Zeit, mich irgendwie an die Situation zu gewöhnen.

Gerade stand ich in dem Badezimmer, das an mein Krankenhauszimmer anschloss und betrachtete mich im Spiegel. Mir war aufgefallen, dass ich kleiner geworden war, weniger muskulös, weniger behaart, meine Augen waren dunkler geworden und meine Gesichtszüge etwas weicher. Trotz dem abwertenden Ausdruck in meinen Augen für mich selbst sah ich nun irgendwie freundlicher aus, zugänglicher.

Ich seufzte, als ich daran dachte, dass ich so viel besser in die menschliche Gesellschaft passte. Ich fiel optisch nicht mehr so sehr auf und würde bestimmt leichter Anschluss finden, falls ich es denn versuchte. Dies war der erste Moment, in dem ich darüber nachdachte, was mir das eben als Mensch für Möglichkeiten eröffnete, doch zugleich begriff ich dadurch, dass ich somit irgendwie mit meinem alten Leben, einem Leben, das ich fast 900 Jahre gelebt hatte, abschloss und dieser Gedanke jagte mir solch eine Angst ein, dass ich all meine Überlegungen zurückdrängte und nur noch auf Boris warten wollte. Er konnte mir gut ablenken oder mir Mut zusprechen und es gab mir Sicherheit, dass meine Gefühle zu ihm das einzige waren, das ich nicht geändert hatte. Vielleicht waren wir ja keine Gefährten mehr, aber da hieß nicht, dass wir nicht füreinander bestimmt waren oder?

Ich erledigte meinen Toilettengang, wusch artgerecht meine Hände und ging zurück in das Zimmer, in dem mein Bett stand. Es war bereits abends und aufgrund der Jahreszeit schon ziemlich dunkel, also stolperte ich eher tastend voran als alles andere. Früher hatte ich in der Dunkelheit sehr gut sehen können, nun musste ich Angst haben, über meine eigenen Füße zu stolpern. Es war lächerlich, was aus mir geworden war. Nicht nur ich war dieser Meinung.

Ich hörte ein raues Lachen, zuckte heftig zusammen und versuchte mich umzusehen, doch erkannte niemanden. Ich wusste nicht mal, was welcher Richtung das Geräusch kam.

„Oh Charlie", die männliche Stimme klang amüsiert. Ein kalter Schauer durchzuckte mich, als ich sie erkannte.

„Eric?" Einerseits wusste ich, dass das nicht sein konnte, doch andererseits war es auch unmöglich, von einem Vampir wieder zu einem Menschen zu werden.

Plötzlich ging das dämmernde Licht einer Lampe an der Wand an und ich sah Eric gerade die Hand vom Schalter nehmen, während er meinen Blick erwiderte.

„Schön, dass du mich erkennst... Ist ja schon eine Weile her", Er lächelte, etwas, das ich von ihm nur sehr selten zu Gesicht bekommen hatte.

Mein Herz überschlug sich beinahe, so schnell pochte es, vor Überraschung und vielleicht auch ein wenig vor Angst.

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