Es brach mir das Herz, Chester so zu sehen. Als wir uns vor 15 Jahren voneinander verabschiedet hatten, da ich in den Himmel musste, um meinen Pflichten als Engel nachzukommen, war er ein erwachsener, reifer Mann gewesen. Selbstbewusst, verständnisvoll, stark. Nun starrte er voller Verzweiflung auf seine Finger, an denen er mein Blut kleben hatte. Es war sehr wenig, da er kaum etwas danebengehen lassen hatte, doch es war genug, um ihm vor Augen zu führen, was er getan hatte.
Mir war klar, dass er bereits sein ganzes Leben lang mit der Existenz von Vampiren konfrontiert worden war, mehr als die meisten anderen Menschen, doch es musste ein unglaublicher Schock für ihn sein, dass er nun plötzlich auf der Seite seines eigentlichen Gegners stand.
Nachdem ich begriffen hatte, was die einzige Ursache für das Zusammenbrechen der Welt auf diese Art sein musste, und ebenso verstanden hatte, dass es mit Chester zu tun haben musste, da er derjenige gewesen war, bei dem alles angefangen hatte, war ich zeitlich zu dem Moment zurückgegangen, an dem ich die starke Erschütterung gespürt hatte. Jemand hatte maßgeblich in den Verlauf der Geschichte eingegriffen, indem er Chester getötet hatte, sodass sich die Zukunft diesem Ereignis hatte anpassen müssen. Ich wusste, es konnte nur ein Engel gewesen sein, da wir die einzigen Wesen waren, die so etwas tun konnten. Sich Zeit und Ort zu unterwerfen, waren irdische, menschliche Dinge. Wir wurden davon nicht beeinflusst, doch wir konnten es beeinflussen, selbst, wenn wir das nicht sollten. Man sah ja, was dann passierte. Durch die Veränderung einer einzigen, so bedeutungslos scheinenden Sache, war das Ende der Welt herbeigeführt worden. Das konnte unmöglich so geplant gewesen sein und wenn doch, dann war es umso schlimmer.
Chester war im Moment 22 Jahre alt. Das würde er von nun an bis zu seinem Tod als Vampir bleiben. Jedoch war er somit auch jünger und unreifer als mit 28, als ich ihn kenngelernt hatte. 6 Jahre konnten für die Menschen und die Entwicklung ihres Charakters, ihrer Stärken und Schwächen ausschlaggebend sein. Deshalb wusste ich, ich konnte nicht davon ausgehen, den rationalen, aber dennoch empathischen Chester vor mir zu haben, den ich kannte. Vor allem nicht nach dem, was passiert war.
„Du bist ein Vampir", erklärte ich ihm ruhig. „Das weißt du"
Er sah von mir zurück zu seiner Hand und dann wieder zu mir, ehe er fassungslos den Kopf schüttelte. „Es tut mir so unendlich leid, ich..."
„Es geht mir gut, mach dir keine Gedanken um mich. Wir haben größere Probleme"
Chester schluckte schwer und sah mich weiterhin geschockt an. Doch diesmal sah ich auch etwas Verwirrung und Unsicherheit in seinem Blick durchblitzen. „Wir?"
Ich nickte und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte. Ich durfte ihm nicht die Wahrheit erzählen, das könnte alles nur noch schlimmer machen, doch belügen wollte ich ihn auch nicht.
„Ich bin hier, um dir zu helfen. Aber dazu musst du mir vertrauen."
„Ich kenne dich doch gar nicht" Er schüttelte schnell den Kopf und sah mich an, als sei ich komplett irre.
Vermutlich war ich das auch, wenn man mal bedachte, dass ich mir diese Last, die Welt zu retten schon wieder selbst auferlegte. Doch diesmal war es anders. Diesmal ging es nicht um mich und meine Angst vor dem Nichts. Diesmal ging es um Chester. Das bedeutete für mich, alles zu tun, was in meiner Macht stand, um gerade zu biegen, was, wer auch immer ihn umgebracht hatte, angerichtet hatte. Von meiner ganz persönlichen Rache mal abgesehen, aber das verstand sich ja wohl von selbst. Irgendwer hatte den Mann umgebracht, den ich liebte, und das weit vor seiner Zeit. Das heizte dem teuflischen Feuer in meinem Inneren ganz schön ein.
Für Chester allerdings wollte ich nur das Beste. Ich wusste nur nicht, wie ich ihm das klarmachen konnte. Für ihn war ich ein verrückter, gruseliger Fremder. Trotzdem glaubte ich, er hatte weniger Angst vor mir als vor sich selbst.
„Dennoch bin ich der einzige, der dir im Moment helfen kann, Chester. Der einzige, der dir helfen wird, in Anbetracht dessen, was du nun bist"
Es verletzte ihn, das wusste ich. Aber es war leider die Wahrheit. Seine Freundin wusste nicht mal, dass er aus einer Jägerfamilie kam und als sie es in der Zukunft erfahren hatte, hatte sie ihn sprichwörtlich zum Teufel gejagt. Sein Bruder war sein Leben lang dazu ausgebildet worden, Wesen wie ihn zu fangen, zu foltern und zu töten. Auch von ihm konnte Chester keine Hilfe erwarten. Und so ungern ich das auch sagte, mehr Menschen, denen er wichtig war, hatte er bedauerlicherweise nicht. Noch nicht.
„Wieso solltest du das tun? Ich... Ich habe dich gerade angefallen und du stehst hier rum und redest mit mir, als sei es niemals passiert... Ich habe dich gebissen und dein Blut getrunken!" Diese Tatsache war für ihn verstörender gewesen als für mich.
Ich hatte sein starkes Verlangen nach mir gespürt und ich wusste, dass es daher kam, dass sein Körper sich holen musste, was er brauchte. Es verwunderte mich, dass das ausgerechnet Engelsblut zu sein schien, doch ich hatte ihn dennoch trinken lassen. Mich in der irdischen Ebene zu manifestieren, war sehr kompliziert und schwierig. Ich hatte meine personelle Präsenz bei mir und so viel von meiner Kraft, dass ich sie zu diesem Körper verdichten konnte, sie die Erde aber nicht zersprengen würde. Deshalb war ich nicht auf eine Hülle angewiesen, doch hatte dennoch einen menschlichen Körper und somit auch Blut. Dieses bestand jedoch primär aus Engelskraft, die Chester nun in sich trug. So etwas hatte es noch nie gegeben, denn ich war der einzige Engel, der sich von selbst auf der Erde manifestieren konnte, ohne Hülle und mich hatte bisher noch kein Vampir angefallen. Natürlich interessierte es mich, warum ausgerechnet er derjenige war, der sich nach Engelsblut verzehrte, aber dies stand im Moment eher im Hintergrund. Es war nun erstmal wichtig, Chester zu beruhigen und vor allem: Sein Vertrauen zu gewinnen.
„Hättest du mein Blut nicht getrunken, würdest du sterben, das weißt du genauso gut wie ich", begann ich. „Du weißt alles über Jäger und Vampire, was es für euch Menschen über sie zu wissen gibt. Du kennst die Antworten auf die ganzen Fragen in deinem Kopf bereits. Du musst nur beginnen, sie zu akzeptieren. Du bist ein Vampir, Chester, und das lässt sich nicht mehr rückgängig machen."
Er schüttelte vehement den Kopf und hauchte ein verzweifeltes „Nein", während er sich die Hand in die Locken krallte.
Es tat mir unglaublich weh, ihn so zu sehen. Ich musste mich beherrschen, nicht zu ihm zu gehen und ihn zu beruhigen, ihn in den Arm zu nehmen und zu küssen. Ich hatte ihn so sehr vermisst, doch er wusste nicht mal, wer ich war.
„Wieso ich?" Er sah mich erneut an. „Wieso sollte mich jemand umbringen? Wieso sollte ausgerechnet ich als Vampir zurückkommen? An mir ist nichts besonders, nichts wichtig. Ich..."
Es war absurd was er da sagte, doch er konnte nicht wissen, dass die gesamte Welt zusammengebrochen war aufgrund seines Todes.
„Glaub mir, du bist bedeutender, als es den Anschein hat"
„Wieso?", hauchte er erneut. Er wollte endlich Antworten, die ihm weiterhalfen. Die ihm dieses beklemmende Gefühl von purer Verzweiflung nahmen. Doch diese konnte selbst ich ihm nicht geben. Noch nicht.
Ich sah ihn entschlossen an und antwortete: „Ich bin hier, um das herauszufinden"
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Only We
Fantasía-Ich erkannte in seinem Blick, dass da noch so viel mehr war. So viel mehr, das er mir sagen und bewusst machen wollte, doch er stand einfach nur knapp vor mir und sah mich intensiv an, sodass es sich so anfühlte, als entfachte er ein wärmendes Lage...