85. Eric: Erlösung

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„Scheiße!", zischte ich fluchend, als ich bemerkte, dass wir auf diesem Wege nicht weiterkommen würden. Ich war diesen Geheimgang so oft gegangen, dass ich mit Sicherheit sagen konnte, dass wir kurz vor unserem Ziel – meinem Zimmer im Palast – waren, doch durch die anhaltenden Erschütterungen des Gebäudes war der Weg mit Steinbrocken verschüttet worden, die ich aufgrund des Platzmangels hier nicht so einfach wegbekommen würde.

„Was ist los?", Charlie klang erschöpft und keuchte mehr als wirklich zu atmen, die Luft hier war sehr stickig und allgemein war ich mir sicher, dass ihm diese Aktion alles andere als guttat. Wir mussten hier schnellstmöglich raus, sonst konnten wir Charlie als Leiche hier raustragen.

„Alles bestens", sagte ich, erkannte selbst in der Dunkelheit Boris' misstrauischen Blick und fühlte mich dadurch noch mehr unter Druck gesetzt. Er konnte mich ohnehin schon nicht leiden, aber ihn anzulügen würde das wohl nicht besser machen. Zugeben, dass ich uns direkt in eine Sackgasse geführt hatte, konnte ich aber auch nicht, dafür war mein Stolz einfach zu groß. „Für jedes Problem gibt es eine Lösung", setzte ich also leiser hinzu und dachte angestrengt nach.

„Welches Problem denn?" Boris klang so als habe er bereits eine Ahnung und auch, wenn ich ihn noch nicht sehr lange kannte, war mir klar, dass er kurz davor war, auszurasten. Es war ziemlich deutlich geworden, wie sehr Charlie diesen Mann liebte und wie sehr er ihn brauchte; vor allem in seiner jetzigen Situation. Das war der einzige Grund, weshalb ich ihn so mit mir reden ließ.

Ich hatte sehr viele Jahre keinen Kontakt mehr zu Menschen gehabt. Um ehrlich zu sein hatte mein Leben nach Kyles Tod ziemlich trostlos ausgesehen, naja erbärmlich traf es wohl eher. Nachdem meine Familie mich für tot hielt und mit einem Krieg gegen die Menschen zu tun hatte, konnte ich nicht zurückkehren, nicht nach all dem, was ich getan hatte. Außer ihnen hatte ich nach Kyles Tod niemanden mehr und so kam es irgendwie dazu, dass ich fernab von jeder Zivilisation in einer kleinen Hütte lebte. Okay, von einem echten Leben konnte nicht wirklich die Rede sein, ich überlebte, wartete gefühlte Ewigkeiten, doch wusste nicht wirklich worauf. Dann, vor ein paar Wochen spürte ich ein Kribbeln im ganzen Körper, eine Wärme, genau das Gefühl, das Kyle in mir ausgelöst hatte und folgte ihm wie einem Sog direkt hierher. Natürlich wusste ich, wie es um die Welt stand. Ich hatte das schon immer gewusst. Doch wirklich verantwortlich dafür fühlte ich mich nicht und Interesse hatte ich auch nicht. Ich war wegen Kyle hier, nur seinetwegen. Charlie wiederzusehen, hatte mich zwar für kurze Zeit gefreut, doch wirklich glücklich sein darüber konnte ich nicht. Was aus ihm geworden war, war schrecklich. Es war nichts mehr von dem starken, selbstbewussten, respekteinflößenden Vampir, der mich aufgezogen hatte, mehr übrig. Als Mensch war Charlie einfach nur erbärmlich. So wie er klang und so wie er roch, war er ohnehin schon mehr tot als lebendig. Aber wenn man mich fragte, dann konnte der Tod in seinem Fall nur eine Erlösung sein. Solange er ein Mensch war, konnte er immerhin noch in den Himmel kommen, als Vampir sah das schon anders aus...

„Eric!"

„Ja doch!", brüllte ich zurück, als Boris mich nach einer weiteren Erschütterung und dem Einsacken der Decke angeschrien hatte.

Ich wusste nicht wirklich was ich tat, als ich begann, auf die Bruchstücke des Gemäuers vor mir einzuschlagen. Vielleicht stabilisierten sie die herunterbrechende Decke und waren das einzige, was uns gerade schützte, doch selbst wenn es so war, irgendwann würde die Decke brechen und zu versuchen, die Steine zu zerkleinern und weiter vor zu schieben, sah ich als einzige Möglichkeit, hier lebend rauszukommen.

Natürlich verbesserte es unsere Lage nicht wirklich. Es sorgte für noch mehr Staub in der Luft, es war laut, Steinbrocken sprangen umher und es tat verdammt weh, doch das meiste schirmte ich vor Charlie und Boris ab.

Irgendwie war es paradox. Je stärker der Schmerz wurde, desto stärker fühlte ich mich und schlug dementsprechend zu. Es half voran zu kommen aber angenehm war es nicht.

„Hast du vor, uns umzubringen, verdammt?!", hörte ich hinten von Boris, während Charlie nur hustete und nach Luft hechelte. Obwohl ich der Überzeugung war, zu sterben wäre das Beste für ihn, wollte ich doch nicht dafür verantwortlich oder dabei anwesend sein. Es spornte mich dazu an, noch mehr Kraft zu geben.

Schließlich schrie ich vor Schmerz, Anstrengung und Verzweiflung, als ich glaubte, keinen Zentimeter voran zu kommen, bis meine Faust bei einem kräftigen Schlag nicht länger auf Stein traf. Ich vergrößerte das Loch durch einige Schläge und schob die Steine heraus, sodass sie mit lautem Krach auf dem Boden landeten, kroch aus dem Loch und half dann Charlie heraus. Boris wollte meine Hilfe nicht annehmen, sondern sah mich nur abwertend an, während er sich um Charlie kümmerte, nachdem auch er draußen war. Wir standen in meinem alten Zimmer herum. Es schockierte mich beinahe, dass es noch genauso aussah wie damals, als ich es verlassen hatte.

Bevor ich Charlie fragen konnte, wie es dazu gekommen war, sprang die Tür aus den Angeln und vier Leute stürmten in den Raum, darunter zwei Vampire, ein Jäger und ein Engel.

„Eric" Aus Kyles alarmiertem Blick wurde ein schockierter, als er mich erkannte.

Ich konnte nicht anders, als breit zu grinsen, als ich ihn sah, genoss dieses Gefühl, das nur er in mir auslösen konnte. „Hei Sunnyboy"

Kyle wirkte ungläubig, sein Mund stand leicht offen und er schien sogar das Blinzeln zu vergessen. Doch nicht nur er war bis in alle Maßen schockiert.

Hinter ihm stand meine Mutter mit einem ihm sehr ähnlichen Gesichtsausdruck, nur dass es bei ihr so wirkte, als breche sie jeden Moment in Tränen aus.

„Hi Mum" Ich fühlte mich wie ein Junge, der heimlich zu viel Blut getrunken hatte und daran gescheitert war, die Beweismittel zu vernichten, jedoch jetzt hoffte, nicht aufgeflogen zu sein. Dieses Gefühl kannte ich nur allzu gut.

Ehe ich mich versah, stand sie auch schon knapp vor mich und drückte mich fest, fragte immer wieder, was passiert war. „Das ist eine lange Geschichte, Mum. Dafür haben wir jetzt keine Zeit"

Nachdem ich das gesagt hatte, löste sie sich langsam von mir, trat einen Schritt zurück und musterte mich misstrauisch. Obwohl ich nichts anders tat, als ihren Blick möglichst unschuldig zu erwidern, schien sie doch eine Erkenntnis zu treffen und sie sah sofort zu Kyle. „Du! Das ist doch wieder alles nur deine Schuld! Was hast du ihm angetan?!", brüllte sie, als sie auf ihn losging.

Kyle wich überrascht einen Schritt zurück und seine Flügel spannten sich innerhalb eines Augenblickes komplett auf, sodass Mutter sofort stehenblieb und ihn ehrfürchtig ansah.

Irgendwie machte es mich stolz, ihn so zu sehen, mit dieser Macht, die er zu Lebzeiten nie hatte nach außen tragen können.

„Er hat mir nichts angetan, Mum" Ich trat langsam auf sie zu und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. „Er hat mich damals gerettet, so oft, dass ich irgendwann aufgehört habe zu zählen. Er hat seine Seele für mich gegeben"

Als ich das sagte, sah ich Kyle mit all meiner Zuneigung an, doch er lächelte bloß und ließ seine Flügel wieder langsam sinken. Und obwohl um uns herum wortwörtlich die Welt unterging, konnte ich nichts Anderes tun als hier zu stehen und seine Schönheit zu bewundern.








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