74. Boris: menschlich

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Nachdem ich einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen hatte, hatte ich das Vampirreich sehr schnell verlassen und war ins Krankenhaus gefahren. Schon als ich auf der Etage ankam, auf der sich Charlies Zimmer befand, bemerkte ich den Aufruhr und stürmte in sein Zimmer.

Es standen mehrere Leute aus dem Personal hier herum und redeten auf Charlie ein, aber dieser hörte gar nicht zu, sondern packte seine Sachen in eine Tasche, so gut ihm das eben möglich war. Allein von den wenigen Bewegungen und den paar Metern, die er zum Schrank gehen musste, schnaufte er schon sehr schwer und wirkte extrem erschöpft, doch er ließ sich nicht davon abhalten, weiter zu machen.

„Gott sei Dank" Aileen, eine der Krankenschwestern, mit der ich mich schon ein paar Mal unterhalten hatte, als ich die Nächte hier oder auf dem Flur verbracht hatte, atmete erleichtert auf, als sie mich entdeckte. „Dein Mann will sich selbst entlassen und von uns wird ihn keiner davon abhalten können, so stur wie er ist."

Ich seufzte tief durch und sah sie beruhigend an. „Danke, Aileen. Ich mach das schon"

Sie nickte und schickte die anderen raus, warf mir einen letzten kurzen Blick zu, ehe sie ihnen folgte. Natürlich bemerkte Charlie mich sofort, doch er machte weiter mit dem Packen, tat dabei so, als sei ich gar nicht da.

„Was soll das werden, Charlie?", seufzte ich und ging um das Bett herum, wo er zwischen Bett und Schrank hin und herlief, um die Sachen, die ich für seinen längeren Aufenthalt hergebracht hatte, einzuräumen.

„Das weißt du doch. Wieso fragst du überhaupt?" Er wirkte sehr abweisend dabei.

„Weil es unsinnig ist" Ich fing seine Hand ab, als sie aus der Tasche glitt und hielt sie fest, zog sie so zu mir, dass Charlie sich entweder losreißen oder mich ansehen musste.

Erst, als er mir so knapp gegenüberstand, bemerkte ich die Veränderungen seines Körpers. Er war kleiner geworden und hatte deutlich an Muskelmasse eingebüßt, sodass wir nun ungefähr gleich gebaut waren, obwohl er mich noch um einen halben Kopf überragte.

Charlie schien es ebenfalls zu bemerken und das gefiel ihm gar nicht. Er drückte meine Hand weg und ging einen Schritt zurück. „Was willst du, Boris? Mich davon abhalten, nachhause zu kommen? Oder mir sagen, dass es nicht länger mein zuhause ist?"

Er wirkte zutiefst verletzt dabei, aber auch vorwurfsvoll, während ich gar nicht verstand, was er damit meinte.

Ungläubig zog ich die Augenbrauen zusammen. „Wovon redest du denn da? Natürlich wäre es mir lieber, ich könnte dich mit nachhause nehmen, aber nicht, wenn wir dadurch dein Leben riskieren. Ich weiß, dass du grade sehr aufgewühlt bist, aber bitte denk doch mal für einen Moment nach"

Charlie schüttelte den Kopf. „Ich habe genug nachgedacht, mir sind einige Sachen bewusst geworden und ich habe Entscheidungen getroffen" Er nahm den Ring, den er auf dem Tisch neben dem Bett abgelegt hatte und drückte ihn mir in die Hand, in der derselbe Ring an meinem Finger glänzte.

„Was soll das heißen?", hauchte ich, umschloss das Schmuckstück dabei fest und sah Charlie zitternd an.

„Was soll es schon heißen?", erwiderte Charlie, sah mich dabei so verletzt an, als hätte ich ihm gerade meinen Ehering in die Hand gedrückt und von Entscheidungen gesprochen. „Ich mache Schluss, bevor du es tust"

Ich hatte unfassbare Schmerzen am ganzen Körper, doch ich riss mich zusammen, da ich wusste, wenn ich jetzt einfach so aufgab, hatte ich Charlie für immer verloren.

„Das kannst du nicht tun, wir sind Gefährten, wir sind füreinander bestimmt, Charlie, wir sind die Verbindung eingegangen und..."

„Es gibt keine Gefährtenverbindung mehr!", unterbrach er mich ungehalten und fasste sich im selben Moment an die Brust. Besorgt ging ich einen Schritt auf ihn zu, doch er brachte mich durch ein Knurren, das aber nun viel zu menschlich klang, in Kombination mit einem bösen Blick zum Innehalten.

„Ich bin kein Vampir mehr", sprach Charlie weiter, diesmal etwas gefasster. „Das heißt, wir sind auch keine Gefährten mehr..."

„Na und?" Diesmal unterbrach ich ihn. „Das heißt doch nicht, dass ich aufgehört habe, dich zu lieben." Ungläubig schüttele ich den Kopf. „...und du kannst mir auch nicht erzählen, dass du mich nicht mehr liebst. Ich kenne dich, Charlie und ich weiß, dass du Angst hast, aber ich verspreche dir, dass wir das schaffen. Gemeinsam" Ich ging langsam auf ihn zu, legte meine Hände auf seine Wangen, obwohl er den Kopf gesenkt hatte und drückte ihn so, dass ich ihm in die hellgrauen Augen sehen konnte. „Es ist mir egal, ob du ein Vampir bist oder ein Mensch, ob wir Gefährten sind oder stinknormale Seelenverwandte... Ich liebe dich bedingungslos und mir ist einfach nur wichtig, dass du am Leben bist, denn ohne dich kann und will ich nicht"

Charlie entwischte eine Träne, die ich sofort wegstrich. „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Boris", schniefte er, hielt sich dabei an meinen Seiten fest.

„Was?", hauchte ich fragend.

„Wieder ein Mensch sein" Er schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen, wodurch sich noch mehr Tränen den Weg über seine Wangen bahnten. „Ich habe keine guten Erinnerungen an meine Zeit als Mensch, ich will sowas nicht wieder durchmachen... und diese ganzen Gefühle... Das ist zu viel für mich..."

„Oh Charlie", flüsterte ich, mit ihm leidend. „Ich weiß, es ist schwer, ja es scheint vielleicht sogar unmöglich, aber wir bekommen das alles wieder in den Griff, Schritt für Schritt. Du wirst wieder ganz gesund, du wirst dich wieder an die Gefühle und das Menschsein gewöhnen und ich verspreche dir, dafür zu sorgen, dass du dein Leben lieben wirst. Diesmal wird es schön, denn jetzt hast du ja mich" Ich grinste dabei leicht eingebildet, obwohl ich ebenso verzweifelte wie Charlie, doch das schien ihn aufzuheitern, denn er lachte etwas und umarmte mich dann. Zwar nur leicht, damit ich nicht zu sehr gegen seine Wunden drückte, doch es war genug, um uns beiden zu beweisen, dass wir gemeinsam kämpfen wollten, komme was da wolle.

„Wir wärs, wenn du dich wieder ins Bett legst und ich räume die Sachen zurück in den Schrank?", schlug ich leise vor und schob Charlie etwas von mir.

Er wischte sich über das Gesicht, schniefte noch einmal und nickte dann erschöpft. „Danke, Kleiner."

Ich sah ihn neugierig an, wollte fragen, wofür, doch da setzte er schon hinzu: „Für einfach alles"

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