19. Boris: Hölle

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„Boris, es tut mir so unglaublich leid. Du, deine Schwester, deine Mutter... Ich habe euch immer geliebt"

In mir gefror alles zu Eis. Mein Vater stand vor mir und bat mich um Verzeihung, er bettelte, er winselte, doch ich gab nichts zurück. Ich konnte nicht.

Ich war heute Nacht aufgewacht, weil ich einen Alptraum gehabt hatte und war runter in die Küche gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Mein Traum hatte sich real angefühlt, wie in einer Vision, mit dem einzigen Unterschied, dass ich aus dieser nicht einfach so aufwachen konnte. Es war kalt gewesen, einsam, aber dennoch hatte ich mich bedrängt gefühlt. Meine Umgebung war einfach auseinandergebrochen, beinahe wie eine Vase, die in tausend Stücke zerfiel. Ich hatte Schreie gehört, doch keine qualvollen, sondern erleichterte, zynische, gehässige. Ich war aufgewacht, weil ich mich so eingeengt gefühlt hatte, so als sei mein Körper eine Lawine, die mich unter sich begrub.

Ich war mir sicher gewesen, dass es keine Vision gewesen sein konnte, da ich aus einer solchen nur mit Charlies Hilfe erwachen konnte und dieser neben mir seelenruhig weitergeschlafen hatte, doch jetzt, wo ich meinen Vater vor mir stehen sah, war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt aufgewacht war. Er konnte nicht hier sein, es war einfach nicht möglich.

„Verschwinde!", knurrte ich wütend. Ich hasste diesen Mann. Er hatte meine Mutter umgebracht, er hatte an Silas herumexperimentiert, er hatte mich entführt und geschlagen, weil er Charlie hatte umbringen wollen. Er hatte von mir verlangt, Austin zu töten. Er hatte mir das Leben zur Hölle gemacht. Wieso sollte ich träumen, dass er es bereute? Dass er sich entschuldigte? Dass er mich liebte?

„Bitte Boris, lass mich erklären!" Er kam auf mich zu, doch je näher er mir kam, desto kälter wurde mir und desto drängender wurde das Verlangen in mir, einfach zu schreien, so als müsste ich explodieren, um diese Spannung irgendwie loszuwerden.

Er streckte seine Hand nach mir aus und ich konnte nicht weiter zurückweichen, da ich bereits an der Wand der Küche stand und nicht mehr weitergehen konnte. Die pure Panik überfiel mich.

„Verschwinde!", Diesmal brüllte ich es aus vollem Halse. „Hau ab! Lass mich in Ruhe!" Ich schloss meine Augen, hielt die Hände schützend vor meinen Körper, da ich aus irgendeinem Grund Schläge von ihm erwartete. Jedoch passierte gar nichts.

Er tat mir nicht weh, er kam mir nicht zu nahe und er redete auch nicht weiter mit mir. Er war weg.

Ich öffnete die Augen, als ich Charlie meinen Namen hauchen hörte, seinen Duft wahrnahm und spürte, wie er die Arme um mich legte. „Alles ist gut, Kleiner, ich bin da" Er drückte mich an seine Brust und hielt mich fest, während ich verstört auf die Stelle sah, an der mein Vater eben noch gestanden hatte.

Charlies Berührung fühlte sich echt an, ich roch seinen vertrauten Duft und hörte sein Herz an meinem Ohr pochen, also konnte das alles kein Traum gewesen sein. Doch was sonst?

Mein Mann kannte mich gut, er wusste, dass ich gerade nicht reden wollte, sondern einfach nur spüren wollte, dass ich sicher war. Er hielt also den Mund und umarmte mich einfach nur fest. Dadurch schaffte ich es wirklich, mich zu beruhigen.

Es war früher Morgen, die Sonne tauchte den Raum bereits in ein rötliches Licht, was eine Vision noch unwahrscheinlicher machte, da ich diese nur mitten in der Nacht hatte, außer ich berührte eine Person und sah bewusst ein Ereignis ihrer Zukunft. Doch das war nicht passiert.

Ich wusste nicht, wie lange ich mit Charlie hier herumstand, doch es schien nicht so lange gewesen zu sein, wie es sich anfühlte, da Charlie wohl nicht der einzige gewesen war, den ich durch mein Geschreie geweckt hatte.

Auch Luzifer stand nach einem Moment im Raum und sah mich alarmiert an. „Du hast es auch gespürt?"

Ich löste mich leicht von Charlie, um Luzifer verzweifelt anzusehen. „Was war das?" Es klang auch ein wenig nach einem Vorwurf. Wieso musste ich diese scheiß Kraft haben? Wieso musste immer ich leiden? Ich war dafür einfach nicht stark genug, ich konnte und wollte das nicht.

Luzifer biss die Zähne fest zusammen, er schüttelte den Kopf, so als könne er es selbst nicht glauben. „Die Hölle... Sie ist auseinandergebrochen"

„Bitte was?", fragte Raphael, der hinter Luzifer auftauchte und geschockt zwischen uns hin und hersah.

Luzifer fasste sich an die Brust, so als suche er etwas, doch er schien es nicht zu finden. „Ich weiß nicht wie, ich weiß nur, dass dadurch Billiarden von gepeinigten und boshaften Seelen freigesetzt wurden und sich gerade ihren Weg in die irdische Ebene erkämpfen"

„Wie sollen wir uns das vorstellen?", Raphael sah alarmiert aus, aber auch so, als hatte er absolut keine Ahnung, was nun zu tun war. Da war er nicht der einzige.

„Die Ebenen sind so konstruiert, dass nur Engel sie passieren können, um ihre Aufträge zu erfüllen. Ihre Abgrenzung besteht zum Großteil aus Energie, die eine menschliche Seele auslöscht, sobald sie mir ihr in Berührung kommt, außer sie steht unter dem Schutz eines Engels. So kommen Menschen nach ihrem Tod in den Himmel oder die Hölle, aber das ist für menschliche Seelen eine Einbahnstraße. Normalerweise können sie nicht zurück auf die Erde, der Vampirzyklus ist eine Ausnahme. Es zergehen gerade unendlich viele Seelen bei ihrem Versuch von der Hölle auf die Erde zu kommen, aber einige schaffen es durch, weil das Zerbrechen der Hölle kleine Risse in den Übergang der Ebenen ausgelöst hat..."

Mitten in Luzifers hektischer Erklärung, hauchte ich: „Mein Vater war in der Hölle" und sah dann aus großen Augen zu Charlie.

Er sah mich verwirrt an. „Wie kommst du darauf?"

Ich schluckte und sah zu Luzifer. „Ich habe meinen Vater gesehen, gerade eben noch, er hat mit mir geredet und..."

Luzifer lachte leicht auf, doch es wirkte nicht belustigt, sondern eher ungläubig.

„Was? Wieso lachst du?!", fragte ich, wurde wütend dabei. Ich litt hier, ich suchte verzweifelt nach Erklärungen und er lachte.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass ein Mensch solch eine Macht in sich tragen kann..." Luzifer schüttelte den Kopf, als er mich ansah. „Was hast du mit deinem Vater gemacht? Wieso ist er verschwunden?"

Ich sah mich um, suchte nach der Antwort, doch fand sie einfach nicht. „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Er ist mir zu nahegekommen, ich hatte Angst und ich habe einfach geschrien, dass er verschwinden soll... Und dann war er weg"

Luzifer reagierte nicht wirklich, daher sah ich zu Raphael, der mich nur ungläubig ansah und schließlich zu Charlie. „Was hat das zu bedeuten?"

„Ich weiß es nicht", hauchte er. Ich sah ihm an, wie sehr er es hasste, diesen Satz auszusprechen und, dass er gerade nichts lieber tun wollte als mir dieses Leid abzunehmen. Doch er konnte nicht.

Es war still zwischen uns, so still, dass es mir unendlich laut vorkam. Ich wollte eine Lösung, einen Weg, eine Veränderung. Letzteres bekam ich, als plötzlich ein lautes Donnergrölen ertönte und ein Blitz direkt neben dem Haus einschlug. Verängstigt klammerte ich mich an Charlie. Nun waren auch die letzten im Hause wach geworden und kamen zu uns herunter.

Es begann zu stürmen, so heftig, dass unsere Fenster zersprangen und es sogar die Tür aus den Angeln hob. Es kam mir beinahe so vor als hätte es dieses wütende Gewitter nur auf uns abgesehen, darauf, uns einzuschüchtern. Was mich anging, hatte es damit auf jeden Fall Erfolg. Ich hatte keine Ahnung, was das wirklich zu bedeuten hatte und war auch nicht in der Verfassung, mir darum Gedanken zu machen. Ich wollte einfach, dass es aufhörte. Dieser Schmerz, diese Angst, dieses Leid. Es war zu viel für mich.

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