(48) Alles bloß Vermutung

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Während ich den warmen Wasserstrahl auf mich hinabprasseln ließ, spielten meine Gedanken noch immer mit den Textzeilen des Kinderliedes. Ich war mir fast hundert prozentig sicher, dass es irgendeine Bedeutung haben würde. Vielleicht war es sogar ein Hinweis auf das, was noch auf uns zukommen würde? So oder so hatte Valentin zumindest sein Ziel erreicht, mich zu verwirren.

Ablenken tat es mich von meiner weiteren Ausbildung von dem, was ich vielleicht noch schaffen könnte. Aber selbst wenn, wie konnten wir uns am besten darauf vorbereiten, was uns bald bevorstand?

Die Gedanken zogen immer und immer weitere Kreise und gaben mir ein unfassbar bedrückendes Gefühl. Was war, wenn ich das alles nicht schaffen könnte? Was sollte passieren, wenn wir Valentin nicht gestoppt bekamen und er seinen Plan wirklich in die Tat umsetzen würde? Was dann? Würde nicht nur diese Welt, sondern auch die Welt der Mundis in ihre Einzelteile zerfallen und nichts von dem zurück lassen, das diese Welten einst ausgemacht hatten? Die Liebe, die Emotionalität, die Solidarität, die Gemeinschaft, der Zusammenhalt und die Freundschaft. Wenn das alles bloß ein Abschnitt eines verstaubten Geschichtsbuch sein würde, dann könnte ich das nicht ertragen. Dann könnte es sicherlich keiner.

Ruckartig stellte ich das warme Wasser auf kalt um, um die Gedanken aus meinem von der Kälte geschockten Kopf zu vertreiben. Auch wenn dieser Trick nur kurzzeitig effektiv genug funktionierte, reichte es, um meine Gedanken wieder auf meine jetzigen Aufgaben zu fokussieren. Abtrocknen...anziehen...Haare hochstecken...Zimmer verlassen und auf Alec warten. Kleine Schritte halfen, um nicht von den Gefühlen übermannt zu werden. Alles zu seiner Zeit.

Genau diese Schritte arbeitete ich einen nach dem anderen ab und genoss die Leichtigkeit, die sich dabei in meinem Kopf freimachte. Zumindest für einen Moment konnte ich sie genießen, bevor es wieder zurück an die Arbeit ging. Ich fragte mich wirklich, wie die Shadowhunter es schafften mal Urlaub zu machen? Gerade wenn jemand wie Valentin frei herumlief, würde ich wohl kaum ruhig irgendwo feiern können.

"Alles gut?", erkundigte sich Alec, als ich ihn vor meiner Zimmertür antraf. Seine Augen waren dabei vollkommen auf mich konzentriert und ich versuchte die Entspanntheit, die ich gerade empfunden hatte, ihm auch durch das Lächeln zu zeigen. Allerdings war eben diese Leichtigkeit nun hinfort, weshalb sich mein Lächeln sowohl als auch mein Hals etwas verkrampft anfühlten.

"Ja"

"Magnus ist angekommen und wartet in der Bibliothek auf uns. Ich habe auch kurz mit Jace und Clary gesprochen, aber die haben in ihrer Recherche mal wieder nicht so viel hervorbringen können. Manchmal frage ich mich wirklich, ob sie überhaupt arbeiten, wenn sie es sollen", erklärte er erst sachlich, klang allerdings zum Ende hin leicht angefressen. 

"Ok. Hast du Magnus schon von dem Lied erzählt?", wollte ich von ihm wissen und er nickte, bevor er sagte:

"Ja, aber er wusste nicht sofort etwas damit anzufangen. Ich hoffe, dass er seine Recherche ernster nehmen wird"

Alecs Missfallen gegenüber Jaces and Clarys möglicher Arbeitseinstellung war klar aus seiner Stimme herauszuhören, weshalb ich versuchte ihn etwas zu beschwichtigen:

"Vielleicht gibt es wirklich keine hilfreichen Informationen. Ich bezweifle, dass sie das nicht ernst nehmen würden, wenn sie wüssten, das es auch um ihr eigenes Leben geht"

"Das wissen sie. Jeder Shadowhunter weiß, dass es jederzeit vorbei sein kann. Man muss dennoch immer konzentriert sein und sich nicht von seinen Emotionen kontrollieren lassen, damit das Schlimmste in jeder Situation noch irgendwie abgewendet werden kann", malte er das Bild des Lebens eines Shadowhunters für mich weiter aus. Dieses Leben in der ständigen Angst stellte ich mir ziemlich schwierig vor. 

"Menschen gewöhnen sich an Gefahren, wenn sie über einen längeren Zeitraum bestehen und können sich dennoch auf neue Gefahren fokussieren. Wie denkst du, hätten sonst die Urmenschen es geschafft trotz ständiger Gefahren zu überleben?", sagte er in die Stille, so als hätte er meine Gedanken gelesen. Soweit ich das allerdings beurteilen konnte, war die Verteilung dieser Fähigkeit anders herum.

Sein Unmut klang nun auch mir gegenüber durch, weshalb ich mich auf dem restlichen Weg zur Bibliothek recht still verhielt. Wer wusste schon, was in seinem Kopf gerade alles auf dem Karussel herumfuhr und immer wieder nach Aufmerksamkeit schrie.

"Averie, wie geht es dir?", erklang Magnus erleichterte Stimme, als wir schließlich in die Bibliothek eintraten. Er hatte einige Bücher auf dem Tisch vor sich ausgebreitet und schien bis zu unserem Eintreffen sehr in diese vertieft gewesen zu sein.

"Alles gut. Und dir?", antwortete ich schnell und ging auf ihn zu. Er hatte seine Position noch immer nicht verlassen, aber lächelte mich aufmunternd an.

"Ach, soweit geht es mir gut. Ich habe  mich eben etwas in das Lied gestürzt, dass sie dir vorgesungen haben", begann er, machte allerdings eine Pause, um scheinbar die Spannung zu erhöhen. 

"Es gibt noch weitere Strophen davon. Hier", fuhr schließlich endlich fort und schob uns eine Buchseite zu.

<<Fuchs, du hast die Gans gestohlen
Gib sie wieder her
Gib sie wieder her
Sonst wird dich der Jäger holen mit dem Schießgewehr
Sonst wird dich der Jäger holen mit dem Schießgewehr


Seine große, lange Flinte
Schießt auf dich das Schrot
Schießt auf dich das Schrot
Dass sich färbt die rote Tinte und dann bist du tot
Dass sich färbt die rote Tinte und dann bist du tot


Liebes Füchslein, lass dir ratenSei doch nur kein Dieb
Sei doch nur kein Dieb
Nimm, du brauchst nicht Gänsebraten, mit der Maus vorlieb
Nimm, du brauchst nicht Gänsebraten, mit der Maus vorlieb>>


Ich hatte die ersten beiden Strohen bereits gekannt und dennoch verwirrte mich ihre Bedeutung noch immer. Was sollte das bedeuten?

"Und? Was denkst du?", stellte Alec die Frage, die auch mich beschäftigt hatte. 

"Das ist die große Frage. Was sollen diese Zeilen für eine Bedeutung in sich tragen, denn mit Zufall wurden sie sicherlich nicht ausgewählt. Ich musste eine ganze Weile hier stöbern, bevor ich das richtige Buch dazu gefunden hatte", begann er zu erklären und obwohl ich ungeduldig war und ihn deshalb am liebsten dazu drängen würde, endlich mehr zu sagen. Trotzdem hing ich an jedem Wort, das seinen Mund verließ. Einfach nur mit der blanken Hoffnung, dass eines von ihnen mir die Lösung des Rätsels offenbaren konnte.

"Wer könnte jede dieser Figuren im Lied symbolisieren? Und selbst wenn wir das wissen würden, würde uns das helfen, herauszufinden, wo Valentin sich aufhält?", brachte er allerdings nur noch mehr Fragen ins Spiel als die so sehr ersehnten Antworten.

"Wir sollten mit deinem Training starten. Wenn sie auf dem Vormarsch sind, dann sollten wir keine Sekunde verlieren, um dich auf den Kampf vorzubereiten. Ich denke, dass du die einzige Möglichkeit besitzt, um ihn für immer zu besiegen", sprach er plötzlich, als wäre es ihm erst soeben in den Sinn gekommen, von so hohen Sachen, das mir beinahe schlecht wurde und die negativen Gefühle mich wieder versuchten zu erdrücken.

"Magnus. Bitte sag uns einfach, was du denkst, was die Lösung ist", bat ihn Alec, der scheinbar bemerkt hatte, dass seine Bemerkungen nicht spurlos an mir vorbeigegangen waren.

"Ok ok. Aber das sind alles bloß Vermutung, die ich angestellt habe mit dem Blick auf die Situation. Ich erhebe kein Recht auf Richtigkeit", versuchte er sich leicht aus der Verantwortung zu winden.

"Also?", ließ sich Alec allerdings nicht darauf ein und blickte den Hexenmeister fragend mit einem Hauch von Schärfe an.

"Also der Fuchs ist Valentin, der Jäger sind die Shadowhunter und die Gans ist Averie"

HunterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt