(21) Stoß über die Klippe

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Ich hatte für etwas mehr als 2 1/2 Stunden die Augen schließen dürfen, bevor Tekin und Valentin wieder ihren Anspruch auf mich erhoben hatten und mich wieder zurück in meine Traumwelt befördert hatten. Ich wollte nicht mehr. Ich hatte diesen Traum in den vergangenen 42 Stunden hunderte, tausende Male durchlebt und wollte endlich einen Weg daraus finden. Mein Kopf war erschöpft, mein Körper war es auch und dennoch gab es keine Gnade. 

Ich lies meinen Blick über die Szene streifen, aber entdeckte nichts Neues. Meine Gedanken waren nicht in diesem Moment, wollten mich ablenken, damit ich die nächsten Durchläufe überstehen würde ohne meinen Verstand zu verlieren. Sie waren bei Jace, Clary, Izzy und Alec. Bei den schönen Stunden, die wir gemeinsam gehabt haben, bei der Nacht, in der Alec und ich im Institut gesessen und uns bis zum Morgengrauen unterhalten hatten, bei all den Stunden, die wir gemeinsam trainiert hatten. All diese Erinnerungen ließen mein Herz warm werden und gaben mir Kraft noch etwas weiter durchzuhalten. Sie würden kommen und mich retten.

In meinen Gedanken gefangen bemerkte ich erst nicht, dass ich wieder zurück war in dem Raum, in dem Tekin und Valentin ungeduldig auf Fortschritte warteten. In dem Raum, auf der Liege, auf der ich diesen Traum schon hunderte Male durchforstet hatte auf der Suche nach Antworten. Diese Suche war beendet. Es ging nicht mehr weiter für mich.

"Averie, konzentriere dich gefälligst auf deine Aufgabe", knurrte Valentin nah neben meinem Kopf. Ich atmete nur tief durch und starrte an ihm vorbei an die Wand. Plötzlich spürte ich ein Brennen an meiner Wange, aber versuchte trotzdem weiter stoisch an die Wand zu sehen. Ich würde ihm keine Aufmerksamkeit schenken. Ich würde ihn ignorieren, sodass er irgendwann so genervt war, dass er verschwand. Ich wollte ihn nicht mehr ansehen. Den Menschen, der mich seit ewig langen Stunden immer wieder durch meinen Albtraum quälte. 

Erneut spürte ich ein Brennen und ein weiteres, aber mein Fokus blieb. Eine einzelne Träne bahnte sich lediglich ihren Weg über meine Wange nach unten. Ich würde nicht nachgeben. Ich wollte einfach nur wieder nach Hause ins Institut. Es war erstaunlich, dass ich diesen Ort nun als mein Zuhause ansah, aber genau dorthin wollte ich jetzt zurück.

"Los, Tekin", erklang Valentins Stimme, bevor ich spürte wie sich alles in mir zusammenzog und meiner Kehle ein erstickter Schrei entflieh. Was auch immer Tekin da gerade mit meinem Körper machte, es war kaum zu ertragen und raubte mir nur noch mehr meiner minitiöusen Energiereserven. 

Tränen strömten unnachgiebig über meine Wange und ich kniff die Augen zusammen in der Hoffnung mich so besser auf die Kontrolle meiner Gefühle zu konzentrieren und die Schmerzen in den Hintergrund zu schieben. Aber sie waren viel zu penetrant, sodass auch das nicht wie erhofft klappte. Ich bäumte mich auf, riss an den Stricken, aber konnte mich nicht befreien. 

Als endlich der Schmerz nachlies, fiel ich erschöpft in mich zusammen und versuchte mich wieder zu beruhigen. Ich musste sie hinhalten bis die anderen kamen. Sie würden kommen, das hoffte ich so sehr, dass ich jeden gegenteiligen Gedanken mir selbst verbot. Sie mussten einfach. Meine Gedanken sprangen wild umher, längst hatte ich die Kontrolle über sie verloren, weshalb sich meine Taktik, nach der ich handelte, sekündlich änderte.

"Averie, ich würde vorschlagen, dass du dich nun wieder etwas mehr anstrengst, damit wir das hier nicht noch mehr in die Länge ziehen müssen. Also bitte, Tekin, bring sie zurück", erklang Valentins unnachgiebige Stimme, bevor ich wieder zurück befördert wurde.

Ich brauchte ein paar Runden, bevor die Worte der Teilnehmer des Streits sich aus der Mischung aller Geräusche lösten und unterscheidbarer wurden. 

"Was wollt ihr Shadowhunter hier?", erklang die dunkle Stimme eines Werwolfs. 

"Euch zu dem Rat bringen", meinte einer der Shadowhunter trocken und blickte den anderen dabei ernst an. 

"Rat? Wieso?", fauchte der Vampire und ging einen Schritt auf die Shadowhunter zu, die davon jedoch völlig unbeeindruckt schienen.

"Ihr habt euch wieder an Mundies vergangen. Dafür müsst ihr bestraft werden", entgegnete der Shadowhunter und sah auf die Schattenwesen hinab. Seine arrogante Auftrittsweise fiel nicht nur mir auf, sondern auch den Schattenwesen, weshalb der Vampir, der Werfwolf und der Hexenmeister auf ihn zugestürmt kamen.

"Wir haben uns nicht mehr irgendwelcher Verbrechen schuldig gemacht", schlug die tiefe Stimme des Hexenmeisters zwischen die beiden Gruppen eine Mauer.

"Wer sollte das denn glauben?", brachte sich nun der andere Shadowhunter mit ein.

"Einmal Verbrecher, immer Verbrecher", fügte er hinzu und zog seine Seraphklinge, die ich nun mit angespannten Muskeln betrachtete. Nun alles in diesem Traum komplett miterleben zu können und nicht durch visuellen oder auditiven Nebel daran gehindert zu werden, machte es umso schlimmer. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als sich nun auch die anderen Schattenwesen bereit machten zum Kampf.

"Der Rat sollte euch Shadowhuntern Leinen verpassen, damit ihr nicht immer wild aus dem Ruder schlagt wie ihr wollt. Ihr seid auch nur eine Spezies von vielen und wir können euch ebenso gut ausrotten wie ihr uns", erklang die hohe Stimme einer Cilie, die sich nun in den Vordergrund begab und die Shadowhunter herausfordernd ansah, bevor sie fortfuhr:

"Aber das wollen wir nicht. Wir wollen im Frieden leben. Respektiert das, Shadowhunter"

"Respekt. Respekt haben nur die jenigen verdient, die sich bessern und die ihrer aller Wohlergehen wollen. Also erwartet nicht unseren Respekt euch gegenüber. Ihr seid nur Abschaum", spukte einer der Shadowhunter den Unterweltlern entgegen, die allerdings sofort darauf eingingen:

"Mit dieser Aussage habt ihr bestätigt, dass auch wir keinen Respekt vor euch haben müssen. Ihr habt schließlich auch nicht das Wohlergehen aller im Sinn"

Beide starrten sich kurz an, bevor die Shadowhunter ihre Klingen hoben und auf die Unterweltler zugingen. Ein blutiger Kampf entstand, von dem ich mich wegdrehen wollte, weil ich ihn schon viel zu oft gesehen hatte, aber so sehr ich es auch versuchte, ich konnte es nicht.

"Stopp! Stopp! Hört auf! Nein!", schrie ich sie an, aber schaffte es damit keinesfalls irgendeinen Effekt zu erzielen. Ich versuchte mich körperlich zwischen sie zu begeben und sie aufzuhalten. Ich musste diesen Traum doch verändern können. Warum war ich sonst hier. Ich musste doch etwas tun können. Deshalb gab ich nicht auf sie daran zu hindern sich gegenseitig umzubringen. Meine Beine trugen mich zwischen sie, meine Arme versuchten sie auseinander zu ziehen und zu drücken und dieses ganze Gemätzel zu beenden, aber meine Versuche blieben nutzlos.

"Bitte hört auf! Bitte!", schrie ich tränenerstickt, während ich weiter nach Leibeskräften versuchte etwas im Traum zu verändern. Ich versuchte noch tiefer in den Traum zu tauchen, damit ich dort vielleicht etwas verändern konnte, aber auch dort blieb mir ein Erfolg verwehrt.

Das Ende des Albtraums war genauso wie alle zuvor. Nur dieses Mal war ich mitten drin. Dieses Mal hatte ich versucht zu helfen und diese blöde Kraft, die ich haben sollte, zu nutzen. Aber da ich nicht genau wusste, was sie überhaupt war und wie ich sie nutzen könnte, verliefen sich alle meine Versuche im Sand.

Ich kniete mich zu dem Hexenmeister herunter und versuchte die Blutungen zu stoppen und schrie nach Hilfe, aber es half nicht. Er war bereits tot und diese Erkenntnis legte einen Schalter bei mir um, sodass ich nicht wieder an den Anfang des Traums befördert wurde, sondern ins stille und dunkle Nichts.


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