(55) Das Streit Paradoxon

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"Ich dich doch auch, Averie. Ich bin so froh, dass du mal wieder hier bist. Aber geht es dir gut? Macht dich das zu sehr fertig?", erkundigte sich meine Tante mit Besorgnis in der Stimme. Ich wusste, dass sie sich sofort wieder Gedanken machen würde, aber ich wollte deshalb diese Gelegenheit nicht einfach entfliehen lassen.

"Es macht mich fertig, aber ich werde es schaffen, damit umzugehen. Ich werde nicht noch einmal so tief fallen", versuchte ich sie etwas zu besänftigen, allerdings drückte sie mich nur beschützend noch näher an sich. Das hatte sie schon immer getan, weshalb diese Geste mir ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit vermittelte. 

Schließlich lösten wir uns wieder von einander und ich ergriff die Gelegenheit, um mich auch bei Izzy zu bedanken. Sie hatte mir seit dem ersten Tag meisterhaft beigestanden und ich wollte sie in meinem verkorksten Leben nicht mehr missen. 

"Vielen Dank, Izzy. Ich schätze dich mehr, als du es dir vielleicht vorstellen kannst. Vielen Dank, dass du bei mir bist"

Sie murmelte mir ähnliche Worte in Ohr, bevor wir beide durch einen Klingelton unterbrochen wurden. Wir wichen erschrocken auseinander und Izzy brauchte einen kurzen Moment, bevor sie begriff, dass es sich um ihr Handy handelte und sie aus dem Raum ging. Meine Tante Clara sah mich kurz verwirrt an, aber ich lächelte sie nur aufmunternd an. 

"Sie ist sehr nett. Ich freue mich, dass du so gute Freunde in New York gefunden hast. Wie geht es denn Joana? Wohnt ihr beiden noch zusammen?", wollte meine Tante eine leichte Unterhaltung aufbauen, dir mir allerdings sofort mein eigenes Fehlverhalten ins Gesicht schleuderte. Ich hatte mich schon wieder nicht bei ihr gemeldet und dabei hatte ich es ihr versprochen. Genervt von mir selbst zog ich die Luft ein. Das sollte ich endlich mal in Angriff nehmen.

"Alles gut?"

Ich nickte meiner Tante bloß zu, bevor ich schließlich antwortete:

"Joana geht es ganz gut, aber es ist im Moment extrem viel los, weshalb wir uns nur noch selten sehen. Ich hasse es, aber wenn die Arbeit erst einmal erledigt ist, wird es hoffentlich wieder besser"

"Die Arbeit?", erkundigte sich meine Tante verwirrt.

"Ja, ähm... ist etwas spezielles, was du nicht unbedingt verstehen musst. Aber es sollte hoffentlich auch bald vorbei sein, sodass alles wieder einigermaßen normal wird", fuhr ich vage fort und meine Tante hatte glücklicherweise keine Gelegenheit weiter nachzuhaken, da in dem Moment Izzy zurückkam. 

"Bist du oben fertig?", erkundigte sie sich leicht gehetzt klingend, was in mir sofort Verwirrung aufkommen lies. Verwirrung mit einer leichten Spur von Panik, die sich wohl durch die letzten Ereignisse in meine Gefühlswelt eingebrannt hatte und nun immer in solchen potentiell gefährlichen Situationen herauskam. 

"Noch nicht ganz", erklärte ich und zog sie mit mir nach draußen in den Flur und dann nach oben in mein altes Kinderzimmer. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, wollte ich augenblicklich wissen, was vor sich ging:

"Was ist los, Izzy? Wer war das?"

"Elyssia. Irgendwas läuft gerade ziemlich schief im Institut und sie wollte, dass wir schnellstmöglich zurückkommen"

"Aber wenn etwas im Institut nicht gut läuft, wäre es dann nicht besser, wenn wir davon weg bleiben. Was ist wenn Valentin da ist?", hinterfragte ich Elyssias Bitte und merkte dabei selbst, dass das falsch klingen würde, als würde ich meine Freunde nicht beim Kampf gegen ihn unterstützen wollen. Doch das wollte ich, nur wäre es besser, wenn ich das auch wirklich könnte. Zu meiner Überraschung nickte Izzy allerdings bloß und begann dann schnell eine Feuernachricht zu schreiben, während ich nur leicht verwirrt daneben stand.

"Ich versuche Magnus her zu holen, damit er mich dann zum Institut zurückbringen kann, ok?", vergewisserte sie sich, dass ich alles verstanden hatte. Ich nickte sofort, woraufhin ihr Gesichtsausdruck wieder weicher wurde und sie mich sanft anlächelte:

"Ich bin mir sicher, dass es bloß ein falscher Alarm ist und ich schnell wieder hier bin. In der Zwischenzeit wird sicherlich Magnus dir liebend gerne Gesellschaft leisten"

Erneut nickte ich. Es waren nicht nur meine Gefühle wirr, sondern auch meine Gedanken, sodass ich nicht genau wusste, was ich antworten sollte und wie. Daran sollte ich in Zukunft definitiv arbeiten, dass ich nicht so schnell verwirrt war. Fokus, Konzentration und Kontrolle. Diesen Hinweis meiner Mutter sollte ich nicht nur im Bezug auf die Gabe nehmen, sondern auch im echten Leben. Vielleicht würde mir das helfen können.

"Es ist wirklich schön, dass ihr beiden so eine tolle Beziehung hattet", murmelte Izzy, als sie scheinbar gedankenverloren über meine Notizen und Kinderbücher blickte. 

"Meine Mutter war immer darauf besessen aus uns gute Kämpfer zu machen. Aber ich denke nicht, dass sie jemals mit unseren Leistungen zufrieden sein wird", fuhr sie fort, nachdem sie kurz tief durchgeatmet hatte. 

"Ich glaube nicht, dass sie euch nur über eure Leistungen definiert. Es ist vielleicht nicht an mir, darüber zu spekulieren, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es dabei um etwas anderes geht. Sie weiß, dass ihr beiden euer ganzes Leben in der Schussbahn verbringen werdet. Jeder Moment könnte der letzte Moment sein, an dem sie euch noch lebendig erleben darf. Wenn sie euch aber besonders hart trainiert, könnte sie ja denken, dass ihr dadurch besser vorbereitet seid und sie euch indirekt besser vor dem beschützen kann, was jeden Tag aufs Neue auf euch zukommt", gab ich grübelnd von mir, in der Hoffnung, dass ich sie damit nicht noch weiter verletzt hatte. 

"Dass du so empfindest, ist vollkommen legitim, aber manchmal tut es gut, wenn man die Spannung etwas herauslassen kann, indem man die anderen Möglichkeiten einmal durchspielt. Das bedeutet zwar nicht, dass diese Möglichkeiten stimmen, aber sie bieten vielleicht einen hoffnungsvollen Ausblick, sodass ein Gespräch zwischen euch beiden besser verlaufen könnte", sprach ich vorsichtig weiter und studierte dabei vorsichtig Izzys Reaktion auf meine Worte. Ich sollte sofort erkennen, wenn ich intervenieren musste, damit ich die Situation nicht noch schlimmer machte, als Izzy sie bereits empfand.

Die Stille in meinem Zimmer wurde Sekunde für Sekunde erdrückender und ich überlegte bereits, was ich sagen könnte, um die Stimmung wieder etwas aufzulockern, als Izzy schließlich wie aus dem Nichts sagte:

"Wir beiden sollten wirklich einmal reden"

Mein Blick wanderte verwundert und dennoch glücklich zu ihr. Viele Konflikte wuchsen nur noch weiter, weil Menschen Angst hatten, sich zu streiten. Aber wenn sie es nicht taten, dann stand immer etwas zwischen ihnen und sie konnten emotional nicht näher zusammenrücken und den anderen wirklich verstehen lernen. Manchmal war ein Streit oder die Möglichkeit einen Streit durch ein Gespräch zu erzeugen unumgänglich, wenn man eine Beziehung retten wollte. Hoffentlich war das auch in Izzys Fall so. 

"Ja, wir sollten definitiv noch einmal reden", murmelte Izzy weiter vor sich her, bevor sie mich scheinbar noch in Gedanken versunken anlächelte, mich in ihre Arme schloss und einen leisen Dank murmelte. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie dann aus meinem Zimmer und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was ich jetzt machen sollte. Izzy würde zurück ins Institut gehen und gucken, was dort los war. Ich hingegen sollte mich endlich an die letzten Nachrichten meiner Mutter setzen. Es weiter aufzuschieben, änderte nichts an dem Inhalt. Außerdem fühlte ich mich jetzt emotional bereit dafür. Naja, so sehr wie man für die Nachrichten seiner toten Mutter bereit sein konnte.

Nach und nach suchte ich die Worte zusammen und war bereits fast fertig, als ein lautes Klingeln, mir fast einen Herzstillstand bescherte und mich sofort den Stift fallen lassen lies. Erneut erklang das Klingeln, sodass ich die Möglichkeit bekam, herauszufinden, welchen Ursprung das Geräusch hatte. Es war die Haustürklingel. Jemand stand an der Tür.

HunterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt