(56) Orange

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Sobald ich das begriffen hatte, sprang ich auf und hetzte zur Tür. Wer auch immer es war, wenn sie wegen mir kamen, sollte ich auch die erste an der Tür sein. Und wenn auch nur um meine Tante hoffentlich schützen zu können. 

Ich stolperte schon fast die Treppe herunter, weil ich meine Schritte durch meine Nervosität und den erhöhten Adrenalinspiegel immer unkonzentrierter setzte. Zusätzlich erklang gerade die Tür der Küche, sodass ich schnell rief:

"Ich geh schon"

"Ok", rief meine Tante lachend zurück, die mein Schreien wohl nicht als panisch oder hektisch, sondern als aufgeregt und erfreut wahrgenommen hatte. Immerhin würde mir dann eine Erklärung für mein doch wohl recht ungewöhnliches Verhalten erspart bleiben. Und dafür war ich wirklich froh. Meine Tante wusste nichts von der Schattenwelt und sie in diese hineinzuziehen, würde ich mich unter allen Umständen verbieten. Diese Welt war zum Glück nicht für sie gemacht und nicht für sie bestimmt. 

Leicht zitternd öffnete ich die Haustür einen Spalt breit, als ich endlich an ihr angekommen war und war positiv überrascht wer unser Gast war. Magnus stand schief grinsend vor mir und blickte mich mit seinem allzu bekannten leuchtenden Augen herausfordernd an.

"Wen hattest du denn erwartet?", erkundigte er sich grinsend und mit einem leicht sarkastischen Unterton.

"Nicht dich, aber ich bin froh, dass du es bist", antwortete ich etwas außer Atem und öffnete dann die Tür weiter, damit er eintreten konnte.

"Weißt du, was im Institut los ist?", sprudelte gleich meine Neugier aus mir heraus, nachdem ich hinter Magnus gerade erst die Tür geschlossen hatte.

"Nein, tut mir leid. Ich habe Isabelle dort abgeliefert und wollte dann schnell zurückkommen, damit wir üben können. Sie hat mir erzählt, dass du Hinweise von deiner Mutter bekommen hast"

Ich nickte und schluckte dabei nervös. Vielleicht würde mir der letzte Hinweis noch wirklich weiterhelfen, aber die anderen hatten es bisher noch nicht so ganz geschafft. 

"Tante Clara, ein Freund von mir ist gekommen. Wir gehen nach oben", rief ich in Richtung Küche, bevor ich Magnus hinter mir her die Treppen hoch zog. Er schien von meinem Auftreten unterhalten zu sein, da er meine Bewegungen grinsend verfolgte. Ohne weiteres Aufsehen auf uns zu ziehen, versuchte ich ihn möglichst leise in mein Zimmer zu verfrachten.

"Ok, also wo sollen wir anfangen?", erkundigte er sich bei mir, sobald ich wieder etwas zur Ruhe gekommen war. Sofort fiel mir die letzte Zahlenreihe ein, die ich noch zu Ende übersetzen musste. Während ich also meinen Stift, den Zettel und die Bücher zusammensuchte und weiter machte, erklärte ich ihm den Sachverhalt kurz. Die restliche Zeit des Übersetzens blieb er rücksichtsvoll still und erleichterte mir dadurch definitiv die Arbeit.

"Du musst deine Fokussierung ändern, wenn du mehrere gleichzeitig beobachten willst oder verändern willst. Öffne dich und fokussiere dich auf dein Ziel. Hänge die anderen Menschen nur daran"

Das war der letzte Satz, den meine Mutter mir hinterlassen hatte. Konnte der mir nun helfen? Auf jeden Fall wollte ich die beschriebene Herangehensweise sofort ausprobieren, weshalb ich Magnus ansah und ihn bat:

"Bitte bringe mich in den Traum zurück"

Er sah mich etwas überrumpelt an, sodass ich ihm ihre Nachrichten in Kurzform zusammenfasste.

"Wenn es zu anstrengend wird, hören wir sofort auf, ok? Diese Sachen, von denen sie schreibt, klingen sehr kompliziert und brauchen sicherlich viel Energie. Also bitte sei vorsichtig und überschreite deine Grenzen nicht", bat er mich und sah mich durchdringend an, bevor ich schließlich zustimmte. Ich würde schon aufpassen. Noch war es schließlich nur eine Übung. 

"Ok, dann leg dich in dein Bett"

Ich machte mich bereit und spürte, kurz nachdem ich mich in die weiche Matratze hatte fallen lassen, bereits wie Magnus mich in den Traum beförderte. Sanft glitt ich hinein und öffnete sofort mein Ventil, sobald ich dort angekommen war. Das selbe Bild wie jedes der hunderten Male zuvor erstreckte sich vor mir, sodass ich keine große Nervosität verspürte. Noch war das alles bekannt und nicht die Realität. Wenn ich es allerdings bei Valentin oder seinen Kumpanen anwenden sollte, würde die Welt noch einmal ganz anders aussehen. 

Ich begann damit mich auf mehrere Stimmen gleichzeitig zu konzentrieren und merkte schnell wie überwältigend das war. Warum mussten wir Lebewesen nur immer so viel vor uns her denken? Ich hielt es nur wenige Minuten aus, bevor mein Kopf unfassbar zu schmerzen begann. Damit war dann wohl auch mein vorübergehendes Limit erreicht. Hoffentlich lies sich das noch weiter trainieren wie das bei Muskeln ging. 

Die restliche Runde machte ich eine Pause und versuchte die Kopfschmerzen etwas verklingen zu lassen, da ich keine Fokussierung auf irgendetwas mehr herstellen konnte. Allerdings schaffte ich das in diesem Umfeld, in dem man ständig extremen Reizen ausgesetzt war, nicht wirklich. Glücklicherweise holte mich Magnus bereits nach der ersten Runde wieder zurück. Seine Augen sahen mich besorgt an, weshalb ich ihn fragte:

"Alles gut, Magnus?"

"Bei mir schon, aber dir doch nicht. Ich habe dir die Schmerzen schon im Gesicht ablesen können. Also wie fühlst du dich jetzt?", antwortete er fürsorglich.

"Das wird schon. Kann ich fünf Minuten Pause bekommen, bevor wir weitermachen?", bat ich ihn und er erwiderte ohne auch nur den Hauch einer Sekunde zu zögern:

"Natürlich. Ich besorge dir in der Zwischenzeit etwas zu trinken"

Dankbar lächelte ich und lies meinen Kopf in die Berge an Kissen zurückfallen. Ein Fiepen dröhnte in meinen Ohren und meine Sicht war nicht mehr ganz so klar, wie sie mal gewesen war. Bereits von dieser einen Runde erschöpft schloss ich meine Augen und döste tatsächlich kurz darauf weg.

"Deine Tante ist wirklich eine sehr nette Dame", waren die Worte, die mich schlagartig wieder aus dem Schlaf rissen und mir einen halben Herzinfarkt bescherten. Ich hatte völlig meine Tante vergessen und nun hatte sie Magnus Bekanntschaft bereits gemacht. Auch wenn ich Magnus wirklich sehr schätzte, war sein Auftreten, wenn man ihn zum ersten Mal traf, etwas einschüchternd und überwältigend. 

"Keine Sorge, Averie. Ich habe mich ganz förmlich bei ihr vorgestellt und sie schien zwar überrascht, aber keineswegs verängstigt", versicherte er mir und dennoch fühlte ich mich schlecht. Mit Dingen aus der Schattenwelt sollte ich sie niemals alleine lassen. Ich wollte und konnte sie nicht auch noch wegen dieser verlieren.

"Ok, also wie fühlst du dich jetzt?", versuchte Magnus nun ein bisschen abzulenken, was auch soweit funktionierte, dass ich nun in mich reinhörte. Mein Kopf dröhnte nicht mehr und meine Sicht war auch klar. Soweit also alles wieder beim Alten.

"Ich möchte gerne wieder zurück in den Traum", erklärte ich ihm, woraufhin er mir still ein Glas Wasser reichte, das ich schnell leerte. 

"Ok, aber dieses Mal machen wir ein Wort aus, bei dem ich dich sofort heraushole", unterbreitete er mir einen Vorschlag. 

"Meinst du denn, dass ich den sagen kann, sodass du ihn hörst?"

"Manchmal murmelst du, wenn du im Traum unterwegs bist. Also denke ich schon, dass ich es hören könnte. Allerdings musst du das Wort sicherlich im Traum schreien, damit ich dich klar genug verstehen kann", erklärte er mir etwas, von dem ich noch gar nichts gewusst hatte. Ich sprach, während ich im Traum war? 

"Na gut. Welches Wort schlägst du vor?"

"Wie wäre es mit Orange? Das ist abstrakt genug, damit es so vermutlich nicht vorkommt, aber auch einfach genug, damit du es nicht vergessen kannst", schlug er vor. 

"Alles klar", begann ich grinsend. "Die Orange möchte gerne wieder in den Traum. Meinst du, dass wäre machbar? Meinst du, dass ich es dieses Mal schaffen kann?", wurde meine Stimme plötzlich wesentlich leiser und ich merkte wie mich die Zweifel wieder angriffen. Seine Augen wanderten konzentriert über meine Miene, bevor er schließlich schief grinsend, aber dennoch überzeugt von seinen Worten:

"Averie Clark, du kannst alles schaffen, was du möchtest. Du brauchst nur noch ein bisschen Training und dafür bin ich ja jetzt hier"


HunterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt