"Ich dachte mir schon, dass du nach diesem Anruf vor ein paar Wochen hier irgendwann wegen der Sachen noch einmal aufschlagen würdest", erklärte sie schmunzelnd und fügte dann allerdings ernster klingend hinzu:
"Aber bitte pass auf, ok?"
Ich nickte bloß, was ihr Lächeln wieder zurückkehren lies. Ich wusste, dass für sie die Zeit nach dem Tod meiner Eltern nicht schön gewesen war. Sie hatte ihre Schwester und ihren Mann verloren und ihr wurde auch noch gleichzeitig die Verantwortung für mich übertragen. Ein junges Mädchen, das gerade ihre Eltern verloren hatte und sich völlig allein in der Welt fühlte. Ein Mädchen, das innerlich komplett am Boden zerstört war.
Tante Clara führte Izzy und mich, nachdem ich unten meine Tasche abgestellt hatte, nach oben in das Zimmer, das für mich als Kind den Himmel und die Hölle gleichzeitig repräsentiert hatte. Zum einen wurden dort die letzten, zurückgebliebenen Gegenstände meiner Eltern aufgehoben, aber zum anderen waren das eben auch nur die letzten Erinnerungsstücke. Erinnerungsstücke, die einem immer und immer wieder vor Augen führten, dass ihre Besitzer nicht mehr unter uns weilten. An sie wollte man sich verzweifelt klammern und doch gleichzeitig eigentlich nur ihre Besitzer, meine Eltern, zurückhaben.
"Nachdem du angerufen hast, habe ich einige Sachen durchgeschaut und mir ist die Kiste wieder eingefallen", erklärte Tante Clara, als sie vor der Tür zum Zimmer zum Stehen gekommen war.
"Deine Mutter hatte immer einen Faible für Bücher und sie hat mich, sobald du geboren warst, gebeten auf keinen Fall, falls sie nicht mehr hier sein sollte, diese Bücher wegzuschmeißen. Sie wollte sie anscheinend an dich vererben. Ich habe dir das nur noch nie gesagt, weil du noch viel zu aufgewühlt schienst und ich warten wollte, bis ein guter Moment kommt"
Ich schluckte schwer, als das Gespräch plötzlich so konkret wurde. Ich wusste, dass meine Mutter mir immer viel vorgelesen hatte und sie selten ohne ein Buch gesichtet wurde, aber diese Bitte ihrerseits überraschte mich nun doch und machte mir gleichzeitig klar, dass sie gewusst hatte, dass es so hatte enden können. Sie hatte gewusst, dass sie unter ständiger Gefahr lebte und dennoch hatte sie auf mich nie den Eindruck von Angst gemacht.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdachte, konnte ich mich nur an die Bücherabende erinnern, an denen wir mit Kakao draußen im Gras saßen, sie mir aus Büchern vorließ und wir gemeinsam Kinderlieder sangen. Manchmal hatte sich mein Vater mit seiner Ukulele zu uns gesellt und dann wurde es meist noch schöner. Nie hatte ich weder bei ihm noch bei ihr die Panik und Angst festgestellt, die ich im Großteil der "wachen" Zeit in meinen Tagen bei Valentin gespürt hatte.
Schnell schob ich auch diesen Gedanken von mir. Die Initiierung mit der Hilfe meiner Mutter wäre bestimmt so viel sanfter und angenehmer gewesen. Sie hätte mir die Qualen der Albträume nicht abnehmen können, aber sie hätte mich nicht tagelang immer und immer wieder durch sie hindurch gequält. Sie hätte sicherlich eine Kanne Kakao aufgekocht, leise im Hintergrund klassische Musik oder Blasmusik angemacht und jedes Mal, wenn ich aus dem Traum gekommen wäre, genau gewusst, was ich brauchen würde. Einfach nur, weil sie es selbst erfahren hatte, wie es war im Traum zu sein und wie man sich danach fühlte.
Ich biss mir auf die Oberlippe und schloss energisch meine Augen, um bei diesen Vorstellungen nicht anzufangen zu weinen. Sie waren einfach zu schön und zu schmerzhaft zugleich.
"Ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn du das machst, Averie. Bist du dir sicher, dass du dafür bereit bist?", erkundigte sich Tante Clara besorgt, aber ich nickte bloß bestimmt. Wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich es vielleicht nie können, zumal wir eben jetzt die Informationen brauchten und nicht erst in einigen Wochen oder Jahren.
Ich spürte wie Izzy mir ihren Arm über die Schulter legte und sanft sagte:
"Du musst das nicht machen, Averie. Wir alle haben Verständnis dafür, wenn du das noch nicht..", ich lies sie allerdings nicht ausreden und erwiderte:
"Danke, Izzy, aber ich sollte das jetzt machen"
Zwar konnte ich die beiden nicht glücklich stellen mit meiner Aussage, aber ich schritt dennoch einfach auf die Tür zu und öffnete sie. Das Zimmer lag im Halbdunkeln und die Kisten, die darin standen, schienen über und über mit Staub bedeckt zu sein. Tante Clara hatte sich offensichtlich, mit der Ausnahme ihrer kurzen Suche, auch lange nicht mehr in diesem Zimmer aufgehalten. Wenn ich ehrlich war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie es jemals wirklich getan hatte. Dafür war sie mir und dem Schmerz, der auch mich lange Zeit geprägt hatte, viel zu ähnlich.
"Ok, danke, Tante Clara. Könntest du bitte unten warten?", bat ich sie, was sie etwas zögerlich schließlich auch tat.
Sobald ich sie unten die Küchentür öffnen und schließen hörte, begab ich mich in den Raum und lies meinen Blick schweifen. Es war eigenartig sich dieser Angst hier und jetzt zu stellen. Den Raum zu betreten, den ich nie zuvor betreten hatte und der in mir noch immer alles zum Schmerzen brachte. Es war nämlich nicht nur das Zimmer, in dem alle Sachen meiner Eltern aufbewahrt wurden, sondern auch das alte Zimmer meiner Mutter, als sie noch mit ihrer Schwester, meiner Tante Clara, hier in diesem Haus gewohnt hatte.
Tante Clara war elf Jahre älter als meine Mutter und hatte hier mit ihrem Mann ein Haus gefunden, bevor meine Mutter zum Studieren nach Washington D.C. gekommen war und zu meiner Tante zog. Bei ihrem Studium hatte sie sich in einen Absolventen der Uni, meinen Vater, verliebt und dann bereits mit 21 Jahren mich bekommen. Die beiden hatten sich eine eigene kleine Wohnung gesucht, meine Mutter hatte ihr Studium abgebrochen und mein Vater hatte Glück, dass er Unterstützung seiner Familie bekam, bis er schließlich einen Job gefunden hatte. Die beiden hatten alle schwierigen Zeiten gemeinsam überstanden. Ihre Liebe hatte ich immer wie im Bilderbuch empfunden.
Die Ehe meiner Tante und meines Onkels hingegen überstand die Folgen des Mordes an meinen Eltern nicht, weshalb meine Tante mich alleine groß gezogen hatte. Mein Onkel war schließlich ausgezogen, besuchte uns gelegentlich und unterstütze uns beide auch weiterhin. Aber zusammengekommen waren die beiden nie wieder.
"Wonach sollen wir jetzt am besten als erstes suchen?", wollte Izzy wissen, vermutlich um sofort an die Arbeit zu gehen.
"Die Bücher. Wenn sie so darauf bestanden hat, dass meine Tante sie aufbewahrt, könnten sie vielleicht ein Hinweis sein", erklärte ich und fügte dann zu mir selber flüsternd hinzu: "Und selbst wenn nicht, will ich sie mitnehmen"
Wir machten uns also schließlich an die Arbeit die Kisten zu durchstöbern. Oder eher, die Kiste zu finden, in denen die Bücher darauf warteten nach den vielen Jahren wieder gelesen zu werden.
"Ich hab sie", erklang plötzlich Izzys Stimme, die mich sofort dazu veranlasste, mich zu ihr zu begeben. Sie stand vor einem ganzen Haufen von Kisten und hatte die oberste geöffnet, die bis zum Rand mit Büchern gefüllt war. Meine Augen streiften über die Buchrücken und augenblicklich kamen mir wieder die ganzen Erinnerungen hoch. Es waren die Bücher, die sie mir vorgelesen hatte. Die Bücher, die meine Kindheit zu einem Großteil in meiner Erinnerung ausmalten.
Ich lies meine Finger über die Schrift der Bücher streifen und brauchte einen kurzen Moment, bevor ich das erste herauszog. Es war das Kinderbuch, dessen Geschichten sie mir immer erzählt hatte, wenn ich Angst hatte oder wenn ich schlecht einschlafen konnte. Die Häschengeschichten von B. Corden.
Meine Augen nahmen jeden Zentimeter des Covers war und ein kleines Schmunzeln schlich sich auf meine Lippen. Dann schließlich öffnete ich es und sofort segelte etwas zu Boden. Verwirrt sah ich nach unten und erwartete den Anblick eines Lesezeichens. Aber es war kein Lesezeichen oder ein anderes Blatt, dass man zur Markierung einer Buchseite benutzt hatte. Es war ein Brief mit fünf kleinen Worten, die für mich in diesem Moment die Welt anhielten:
Für mein kleines Häschen Averie
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Hunter
FanficAverie Clark ist eine 19-jährige Waise, die nach Brooklyn gezogen ist, um hier ihr Jurastudium zu absolvieren. Sie lebt für Gerechtigkeit und den Schutz für Opfer, da ihre Eltern in ihrem Kindesalter ermordet wurden. Jedoch wandelt sich ihr Leben sc...