Kapitel 1

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Colton/Ende Juni 2021

Shakespeare entwarf mal den berühmt berüchtigten Satz „Sein oder nicht sein? Das ist hier die Frage" und obwohl ich mich nie dazu herablassen würde, ein Genie der Lüge zu bezichtigen, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Frage heutzutage eher „Perfekt oder nicht gut genug" heißen würde. Klingt zwar nicht so wohl formuliert, aber das tun die Leute, die hinter jeden Satz ein ,,Digga" hängen, schließlich auch nicht. Tja, und was mich anbelangt... Ich gehöre zwar noch zu der Sorte Mensch, die Poesie durchaus zu schätzen weiß und deshalb die Finger von solchen Schandwörtern lässt, aber trotzdem mit einem dicken, fetten ,,Ungenügend"- Stempel versehen wurde. Ich meine, warum sollte ich sonst hier sitzen?

Okay, nein bitte nicht darauf antworten. Reden wir lieber noch mal über das umgebaute Shakespeare-Zitat, bevor ich euch meine armselige Lebensgeschichte eröffne und mein akademischer, erster Eindruck somit vollkommen flöten geht. Was der Erschaffer dieser heutigen Weisheit nämlich nicht bedacht hat ist, dass es so etwas wie Perfektion gar nicht gibt. Dass wir aber trotzdem dieser unmöglichen Lebensweise hinterherhechten, zeigt nur, wie tief es bereits seine Krallen in uns geschlagen hat.

Also schauen wir wie verblödete Zombies zu Menschen auf, die diese Perfektion scheinbar erreicht haben, sich dabei aber eigentlich nur in ein Geflecht aus Lügen und Falschheit begeben, die irgendwann ihr Untergang sein wird. Aber das Schlimmste ist wohl, dass ich obwohl ich diesen Umstand erkannt habe, trotzdem keinen Weg aus dieser Hölle finde. Und so stehe ich jeden einzelnen verdammten Morgen auf und denke bereits ab der ersten wachen Sekunde daran, was ich eigentlich schon gestern hätte schaffen sollen und was ich heute bestimmt nicht erreichen werde, weil ich nun mal... Ich bin.

»Noch zwei Minuten bis zum Drehbeginn«, brüllt jemand durch den Raum und erinnert mich daran, dass ich meine Nerven lieber für dieses vermaledeite Interview stärken sollte, anstatt weiterhin im Selbstmitleid zu baden. Das Problem ist, dass meine aktuelle Situation nur noch mehr Gram in mir auslöst. Denn in Wirklichkeit möchte ich gar nicht hier sein. Es gibt zig tausend Orte, an denen ich liebere wäre und trotzdem erwartet mein Manager von mir, dass ich gleich mein bestes Lächeln aufsetze und den Kameras Nettigkeit vorheuchle. Dabei lösen die Interviewfragen mitsamt der Moderatorin schon jetzt Übelkeit in mir aus.

Denn natürlich sitze ich in keiner dieser Late-Night-Shows wie die echten Promis, sondern bei einer YouTube-Video-Reihe von einer knapp Sechszehnjährigen, die auf Social Media durch Choreographien zum Mittanzen und Beauty Hacks zum Star wurde. Durch den pastellrosanen Hintergrund des Sets fühle ich mich wie ein Grufti auf einer Geburtstagsfeier für Einhörner, was augenblicklich dafür sorgt, dass ein großer Teil meines bröckeligen Selbstbewusstseins in den Urlaub fährt. Dabei fühlte ich mich vor ein paar Stunden noch pudelwohl, als ich in die schwarze Ripped-Jeans gestiegen bin und ein Band T-Shirt von Nirvana über den gestreiften Pullover gezogen habe. Verdammt, an den meisten Tagen erlaube ich mir sogar ein wenig Stolz für meinen Stil zu empfinden. Warum lasse ich mich von den blöden weißen Sesseln und den unechten Zeitschriften auf dem kitschigen Couchtisch verunsichern?

Wenn ich so darüber nachdenke, möchte ich mir diese Frage lieber doch nicht stellen, denn sie zieht eine Antwortenwelle mit sich, die mich nur tiefer in das schwarze Loch meines Gehirns reitet. Da erkläre ich euch noch lieber, wie ich überhaupt zu der „Ehre" komme, Teil dieses Interviews zu sein. Und leider muss ich sagen, dass diese Erklärung nicht zu meinen Gunsten ausfällt. Ich meine Ja, ich bin berühmt genug, um von einem Marketingteam zu dieser Folter verdonnert worden zu sein, aber vielleicht nicht so bekannt wie es sich die meisten Leute erst einmal vorstellen. Denn obwohl ich nun schon seit mehr als zwei Jahren bei einem Plattenlabel unter Vertrag stehe und zu Anfang einen glorreichen Aufstieg erlebt habe, bin ich nicht irgendein Ed-Sheeran-Verschnitt, der in naher Zukunft seine 50 Millionen Abonnenten auf YouTube feiern kann.

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