Kapitel 40

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Sidon

Wie paralysiert starre ich an der weißen Hauswand empor und kann mich keinen Millimeter mehr rühren. In meiner Welt gibt es nur das laute Poch-Poch-Poch in meiner Brust, das von gelegentlichem Blinzeln begleitet wird. Mein ganzes Universum ist auf dieses kleine Reihenhaus zusammengeschrumpft und alles was ich denken kann ist, dass es schon bessere Zeiten gesehen hat. Das Weiß ist nicht mehr so strahlend wie bei unserem Einzug, stattdessen hat sich ein grauer Schleier über den Putz gelegt und das winzige Stück Begrünung, das von der Eingangstreppe unterbrochen wird, wirkt verwildert.

Ich bin kurz davor, wieder umzudrehen und diesen bescheuerten Schwur mit Colton einfach zu vergessen. Doch es gibt noch etwas anderes, das mich zurückhält: Ich brauche etwas aus diesem Haus.

Mrs. Shine plant nicht nur unsere Erzählungen über die Vergangenheit mit Aufnahmen aus Anestry Creek zu unterlegen, für heute ist auch ein Dreh angesetzt. Dafür mussten wir bereits am Morgen einen Zettel aus einem goldenen Briefumschlag ziehen. Denn wie sich der Abend gestaltet, hängt von der Umsetzung unserer Aufgaben ab. Auf meinem Papierfetzen stand: Zaubere deinem Partner einen glücklichen Moment und entlocke ihm ein echtes Lächeln! und obwohl das eigentlich einfach sein sollte, ist es alles andere als das.

Ein echtes Lächeln ist bei Colton eine Seltenheit. Man sieht ihn ständig grinsen, die Mundwinkel heben oder in die Kamera lächeln, aber bei all diesen Momenten fehlt dieser Funke Glück in seinen Augen. Von mir zu verlangen diesen Rohdiamanten auf Kommando auf den Plan zu rufen, ist so gut wie unmöglich, denn solche Momente lassen sich nicht bewusst kalkulieren...

Und dennoch habe ich eine Idee entwickelt, die vielleicht funktionieren könnte und vorsieht mit Colton gemeinsam Skateboard zu fahren. Das klingt nach nichts Besonderem, doch ich erinnere mich noch genau daran, dass ich ihn damals zum ersten Mal richtig lächeln sah.

C. hat Wochen damit zugebracht mir, das Fahren beizubringen und an diesem Morgen schaffte ich es problemlos mit ihm mitzuhalten. Er drehte sich zu mir um, als gerade die Sonne aufging. Ich sprühte vor Freude, weil mir der Wind angenehm durch die Haare pfiff und ich mich fühlte, als wäre ich endlich frei. Ich weiß noch, dass ich dachte: Verdammt, ich glaube, er ist stolz auf mich. Und in diesem Augenblick verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln und ich konnte in meiner Brust spüren, dass es echt war.

Es ist verrückt zu denken, ich könnte diesen Augenblick replizieren und dennoch bin ich fest entschlossen die Skateboards zu holen, die hoffentlich noch im Keller meines Elternhauses liegen.

Wenn du so fest entschlossen bist, solltest du aufhören wie eine Stalkerin die Fenster nach Lebenzeichen abzusuchen und endlich reingehen, keift mich meine innere Stimme an. Und offenbar wirkt es, denn keine Sekunde später überquere ich die Straße und drücke auf die Klingel, bevor ich einen Rückzieher machen kann.

Ich höre den Wiederhall des Gongs im Inneren und mein Herz galoppiert vor lauter Aufregung los. Ich werde sie sehen. Nach zwei Jahren werde ich meine Eltern sehen. Hätte ich mich vielleicht doch ankündigen sollen? Ist das hier eine blöde Idee? Sollte ich lieber -? In diesem Moment öffnet sich die Tür wie in Zeitlupe und ich kralle meine Finger in meine Jeans, um meine Hände davon abzuhalten wie verrückt zu zittern. Oh mein Gott...

Im Türrahmen kommt eine Frau zum Vorschein, die mir so schmerzlich bekannt vorkommt, dass sie wie ein Abdruck meiner Erinnerung wirkt. Aber sie ist es wirklich. Meine Mum. Normalerweise reden die Charaktere in Büchern immer darüber, wie sehr sich die Frau vor ihren Augen verändert hat. Sie zählen Alterungserscheinungen auf. Ihnen scheint jedes noch so kleine Fältchen aufzufallen, das sich seit der letzten Begegnung verstärkt oder neu auf dem Gesicht abzeichnet. Doch ich sehe den gleichen Menschen, der mich in den letzten Jahren so vernachlässigt und den ich schließlich für mein neues Leben in Boston zurückgelassen habe. Es ist verblüffend, dass sich auf den ersten Blick nichts an ihrer Erscheinung verändert hat.

Songs, rockstars and the fucking pastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt