Kapitel 6

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Sidon

»Da bist du ja!« Bevor ich überhaupt ein Wort hervorbringen kann, zieht Avel mich bereits in eine Umarmung und ich lasse mich für einen Moment in ihre vertrauten Arme sinken. Der Duft nach Jasmin umhüllt mich und ein Gefühl von Geborgenheit erfüllt meinen Geist. Nur ein paar Sekunden, sage ich mir, doch die Zeit vergeht wie im Flug und keiner von uns tritt zurück.

Ihre weichen Haare kitzeln meine Wange und ich erinnere mich an all die Stunden, in denen wir einfach im Bett lagen und uns aneinander festhielten. Avel hat die außergewöhnliche Fähigkeit, sofort zu erkennen, wenn es jemanden schlecht geht. Ihre emphatischen Antennen sind immer weit ausgefahren und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie meine aufgewühlte Gemütsverfassung mit einem Blick erkannte.

Auch mit ihr habe ich nie über die eine spezielle Nacht gesprochen, die Colton und mich auseinandertrieb. Doch ich habe Andeutungen gemacht, genauso wie sie. Denn Avel wurde ebenfalls schwer verletzt und genau diese Gemeinsamkeit brachte uns zusammen... Und sorgte dafür, dass wir die Grenzen des jeweils anderen respektieren.

Ich weiß, dass ich sie als meine feste Freundin bezeichne, aber wir sind nicht richtig zusammen. Avel und ich haben keinerlei romantisches Interesse aneinander, führen aber auch keine Freundschaft-Plus-Beziehung. Na ja, ich habe euch ja gesagt, es ist kompliziert.

Ich traf zum ersten Mal in der Unibibliothek auf Avel. Wir besuchten nicht dieselben Kurse, weil sie Musiktherapie und ich Audio Engineering studiere, aber das Leben hat uns dennoch zusammengebracht. Wir waren beide nicht auf der Suche nach einer Freundschaft. Ich hatte mich vom Rest der Welt abgeschottet und scheute jede engere Beziehung, weil ich Angst hatte, die Ereignisse mit Colton könnten sich wiederholen.

Taubheit, Selbsthass und Panik vermischten sich für mich zu einem Alltagstrott. Ich kam mir verloren vor, fürchtete mich aber davor, die Hand nach jemandem auszustrecken. Ich wollte dieses Mal allein klarkommen – ohne Fels in der Brandung.

Ich wusste in der Sekunde als Avel und ich nach demselben Buch griffen, dass sie meinen Schmerz teilte. Ich konnte es in ihrem Gesicht sehen. Und so, wurden wir beide zur Ausnahme unserer eigenen Regel und freundeten uns trotz begründeter Ängste an.

Als unsere Beziehung tiefer wurde, gestand ich ihr, bisexuell zu sein und Avel verriet mir, dass sie sich ebenfalls zum weiblichen Geschlecht hingezogen fühlt. Wir hatten beide aus unterschiedlichen Gründen noch keine Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht und taten uns auch sonst schwer, offen mit unserer Sexualität umzugehen. Und in diesem Moment machte es klick und ich schlug Avel vor, meine feste Freundin zu werden.

Ich hoffte nicht darauf, dass wir uns doch noch ineinander verlieben würden. Es ging mir darum, uns beiden die Chance zu geben, in einer sicheren Beziehung wieder aufzublühen und sicherer zu werden. Neue Erfahrungen zu sammeln. Uns gegenseitig Halt zu geben, ohne alle Mauern fallen zu lassen.

Nach einer langen Erklärungszeit stimmte Avel zu und wir zeigten unseren Vergangenheiten gemeinsam den Mittelfinger. Wir bauten uns ein kleines Netz aus Vertrauen, das darauf basierte, dass wir dem anderen nicht das gleiche antuen würden, das uns selbst das Genick gebrochen hatte. Es war wie unser persönlicher Sicherheitsort und wir haben ihn bis heute nicht losgelassen, obwohl wir uns geschworen haben, unser Arrangement sofort zu beenden, wenn wir an einer anderen Person Interesse zeigen.

»Er ist es, oder?«, flüstert meine Freundin plötzlich an meiner Schulter und sofort verkrampft sich alles in mir. Ich weiß, dass sie von Colton spricht. Wie immer hatte sie intuitiv den richtigen Riecher.

Sofort löse ich mich aus ihrer Umarmung, um ihr ins Gesicht sehen zu können, weil ich den vergangen Stunden noch ein bisschen länger entfliehen möchte. Ihre dunklen Haare fließen in einem welligen Durcheinander um ihren Kopf herum und ihre zarten Lippen haben sich zu einem mitfühlenden Lächeln verzogen. Ihre weichen Züge sind mir so vertraut, dass ich es tatsächlich schaffe mich für ein paar Sekunden nur darauf zu konzentrieren.

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