Kapitel 46

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Sidon

»Mhh«, erwidert Avel, nachdem ich ihr alles haarklein erzählt habe, »Ich glaube, wir sollten zuerst bei der Sache mit deinen Eltern einsteigen und das Colton-Drama auf den Schluss verlegen. Oder was meinst du?«

Meine Freundin sieht mich fragend an und ich nicke stoisch. Eigentlich möchte ich über keines der beiden Themen sprechen, doch das ist genau der Grund, warum ich sie angerufen habe. Ich wusste, dass Ave in den Therapeutenmodus schalten und mich dazu bewegen würde, über meine Gefühle zu sprechen. So chaotisch wie jetzt darf es in meinem Inneren nicht bleiben.

»Okay... Wie fühlst du dich nach dem Bruch mit deiner Mutter?«

»Ich weiß, dass ich zumindest danach große Erleichterung verspürt habe. Es fühlte sich an, als wäre mir ein Stein von den Schultern genommen worden. Ich denke, dass es jetzt größtenteils noch so ist, aber ich verspüre auch... Traurigkeit. Mein Verhältnis zu meinen Eltern war nie besonders rosig, aber nachdem Flor gestorben ist... Da war es als hätten sie mich aufgegeben. Als würden sie sich gar nicht mehr als meine Eltern identifizieren, sondern mich als Störfaktor sehen, der in ihrem Haus wohnt.

Und nachdem ich zu Tante May zog brach der Kontakt fast gänzlich ab. Ich habe mir immer gewünscht, dass meine Mutter zum Telefon greift, um mich anzurufen und mir zu sagen wie sehr sie mich vermisst. Doch das ist nie eingetreten. Ich schätze, diese Hoffnung hat mich davon abgehalten, mit dem Kapitel abzuschließen und den Schmerz loszulassen«

Avel lächelt mich mitfühlend an und ich spüre ihre tröstende Hand auf meiner Schulter, obwohl sie mehrere Meilen weit genauso vor einem Laptopbildschirm sitzt.

»Das klingt gut. Wenn ich wirklich deine Therapeutin wäre, dann würde ich das als riesengroßen Fortschritt in deine Patientenakte eintragen«

Das verschwörerische Zwinkern, das sie mir dabei schenkt, sorgt augenblicklich dafür, dass meine Mundwinkel nach oben zucken und ich sehne eine Zeit herbei, in der wir in einem Café gegenübersitzen konnten. Bald. Nur noch ein bis zwei Wochen, wispert meine innere Stimme, aber aus irgendeinem Grund lässt das bloß einen fahlen Geschmack auf meiner Zunge entstehen. Gekonnt versuche ich das Ziehen in meiner Brust zu ignorieren.

»Was ist mit deinem Geburtstag? Es sind nur noch drei Tage bis dorthin und ich dachte,... ich spreche das Thema noch kurz an, bevor wir uns auf den verworrenen Colton-Brocken stürzen. Ich weiß doch, dass dir der Tag immer Schwierigkeiten bereitet. Und wenn du willst, kann ich mein Zelt in der Wohnung deiner Tante aufschlagen und wir verbringen die Zeit gemeinsam vor dem Bildschirm. Nur wir drei. Wir könnten einen Filmmarathon machen oder so«

Die Erwähnung des Themas ist genug, um meine Eingeweide zu verdrehen und ich nehme die dunkle Wolke über meinem Kopf auf einen Schlag besonders stark wahr.

Avel lächelt mich in einer zuversichtlich-aufmunternder Art an, doch ich bringe nicht mehr zustande als ein verkniffenes Halblächeln und einen entschuldigenden Blick. Ich weiß, dass es ihr am liebsten wäre, den Tag mit mir zusammen zu überstehen, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie so in mein emotionales Durcheinander einzuspannen.

Zu dieser Zeit bin ich weder eine besonders gute Gesellschaft, noch habe ich den Beistand verdient. Es ist nicht fair, dass ich alle zwölf Monate ein Jahr älter werde, während das Todesdatum auf Flors Grabstein sich nie verändert. Meine Schwester wird niemals die Volljährigkeit erreichen oder aufs College gehen. Und das ist allein meine Schuld.

»Danke, das ist nett, Ave. Aber ich komm' schon klar. Du kennst mich doch«

Avel lächelt ihr Ist-schon-gut-Lächeln, weil sie weiß, dass sie mich in diesem Punkt nicht umstimmen kann. Keine Geschenke, keine Partys – So lautet meine Devise. Denn die Vorstellung von Menschen in Feierlaune, die mich umströmen und mich zu einem weiteren Lebensjahr beglückwünschen, halte ich nicht aus.

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