Kapitel 27

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Sidon

»Das gestern war ein Fehler – nicht mehr und nicht weniger«, eröffne ich Avel, nachdem sie mich mit diesem verdammten, wissenden Blick ansieht. Die letzten fünfzehn Minuten habe ich ihr den Vasenvorfall und meinen nächtlichen Deal mit Colton geschildert. Und jetzt nimmt sie sich das Recht heraus, eine bedeutungsvolle Miene zu ziehen, obwohl ich dieses Geschehnis auf keinen Fall unter dieser Rubrik verbuchen würde. Sie nicht darunter verbuchen kann.

Ja, ich hatte einen netten Abend mit Colton und es fühlte sich beinahe so an wie früher. Aber das ändert nichts daran, dass ich am nächsten Morgen aufgewacht bin und mich für diesen Anfall von Schwäche verflucht habe. Was ist nur los mit mir? Was ist aus meinem Vorsatz geworden, Colton nie wieder an mich heranzulassen?

In diesem Moment wechselt Avels wissende Miene zu ihrem besorgten Stirnrunzeln. Offenbar passt meine Aussage nicht in das Handbuch für emotional stabile Patienten.

»Das war kein Fehler, Sidon. Jeder braucht mal ein wenig Unterstützung und Sicherheit, vor allem nach einem ereignisreichen Tag mit einer potenziell gefährlichen Situation. Colton war lange Zeit einer deiner Vertrauenspersonen und der einzige Mensch in deiner Umgebung, den du länger als drei Wochen kennst, deine Reaktion war ganz natürlich«

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass Avel meine irrationale Entscheidung in ein so logisches Licht rückt. Irgendwie lässt es gestern Abend noch realer erscheinen, so als wäre all das nicht in irgendeiner Parallelwelt sondern in meiner geschehen. Damit geht mein Versuch, mir das Geschehnis von der Seele zu reden, um es danach in die Wüste des Vergessens zu schicken, nach hinten los.

Also bleibt mir nur der Widerspruch.

»Ja, genau. Colton war einer meiner Vertrauenspersonen. Die Betonung liegt auf dem Wörtchen „war", denn wie du vielleicht weißt, hat er diesen Posten schon vor zwei Jahren verspielt. Bei allem was in dieser Nacht passiert ist, sollte er eigentlich der letzte sein, bei dem ich nach Geborgenheit oder einem sicheren Hafen suche. Vor allem, wenn man bedenkt, wie wir uns seit unserem erneuten Zusammentreffen gegenseitig behandeln. Wir versuchen non-stop, bei unseren Schlagabtäuschen die Überhand zu gewinnen oder ignorieren uns bestmöglich. Unsere Probleme liegen also nicht nur in der Vergangenheit. Verdammt, ohne Colton wäre ich ja nicht mal hier!

Ich meine, ich gebe ihm nicht die Schuld daran, dass ich diesen Vasenvorfall miterleben musste, aber es gibt andere negative Effekte auf mein Leben, die er anscheinend wissentlich verdrängt hat. Seit meiner Ankunft hier traue ich mich kaum noch auf Soziale Medien oder Online-News-Portale, weil ich Angst habe, dass ich irgendwo auf Hasskommentare über mich stoße. Ich weiß, dass so etwas normal ist und dass jeder, der in der Öffentlichkeit steht, mit Beleidigungen überhäuft wird, aber das macht es nicht unbedingt besser. Meine Selbsterkenntnis reicht durchaus aus, um sagen zu können, dass mich jede einzelne fiese Aussage indirekt treffen würde.

Vielleicht gebe ich nicht besonders viel auf die Meinung anderer, aber ich gebe etwas auf das Bild, das ich von mir habe. Eigentlich sollten Hasskommentare das nicht beeinflussen, aber ich weiß, dass sie es tun würden. Jedes Mal, wenn mein Körper langsam in eine Panikattacke gleitet oder ich unser Stress stehe, würden sie sich in einer Endlosschleife in meinem Kopf abspielen und mir die Hölle heißmachen. Deshalb versuche ich so gut wie möglich zu verdrängen, dass zwei Folgen bereits ausgestrahlt wurden und noch weitere folgen werden. Aber es ist nicht einfach, so zu tun, als wäre alles normal, wenn deine Welt plötzlich aus den Fugen gerät und du der Vereinten Nation als Voodoopuppe auf dem Silbertablett serviert wirst...«

Schweratmend halte ich nach meiner schwungvollen Rede inne und fixiere das leuchtende Licht neben meiner Laptopkamera, um mich wieder zu beruhigen. Ich bin mir nicht sicher, ob Avel jedes einzelne Wort meines Gebrabbels verstanden hat, aber trotz der unglaublichen Schnelligkeit sind ihr die wichtigsten Punkte sicherlich nicht entgangen. Dass meine Erwiderung in einem Redeflash endete, ist für sie bestimmt nur ein weiteres blinkendes Warnschild über meinem Kopf. Die Psychoanalyse und die weisen Ratschläge sind mir also spätestens jetzt sicher.

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