Kapitel 39

110 6 161
                                    

Sidon

Meine Finger umklammern das Polster der Sitzfläche, während ich nur an eines denken kann: Ich will hier weg. Ich dachte, ich hätte mich ausreichend auf mein Wiedersehen mit Anestry Creek vorbereitet, aber das war nur eine weitere Lüge, die ich mir vorgebetet habe, um mich selbst zu beruhigen. Denn man kann sich nicht auf die kalten Finger der Vergangenheit vorbereiten, die sich um dein Herz schlingen, um kurz darauf zuzudrücken. Einem Teil von mir ist durchaus bewusst, dass das hier lediglich ein Kaff ist und mich die Erinnerungen selbst bis ans Ende der Welt verfolgen könnten. Aber ich weiß auch nicht, hier wirkt alles viel... präsenter.

Allein diese Fahrt vom Denver Flughafen nach Anestry Creek fühlt sich an als hätte man mich unfreiwillig auf eine Zeitreise geschickt. Jeder einzelne Fleck dieses Kaffs scheint irgendwelche Erinnerungen hervorzurufen und fast jede davon versetzt meinem Herzen einen kleinen Stich. Da ist die Kirche, die meine Eltern jeden Sonntag aufsuchten und die ich nur zweimal während meiner Zeit hier betreten habe. Es dauerte nur diese zwei Wochen bis ich verstand, dass mein Vater weiterhin nicht mit mir reden würde und ich mir meine Anstrengungen sparen könnte.

Ich sehe jetzt noch vor mir, wie ich mich manchmal stundenlang im Bett herumgewälzt habe, die Taschentuchbox neben mir, weil die Tränen bei mir kamen und gingen. Ich weinte um Flor, die diesen Umzug nicht miterleben konnte. Um ihren Tod. Den Verlust. Darüber, dass die andere Seite des Zimmers so leer ohne sie und ihr Bett war. Aber vor allem weinte ich wegen der Schuld, die durch meine Adern floss und meinen zweiten Herzschlag bildete.

In diesem Moment verfolgen meine Augen wie „Danny's Pancakes" an uns vorbeizieht und glückliche Momente mit Colton flattern auf meiner ganz persönlichen Leinwand an mir vorbei, doch sie alle haben einen bitteren Beigeschmack. Denn ich weiß, auf welchen Höhepunkt all diese Augenblicke hinarbeiten.

»Ro«

Urplötzlich versteife ich mich. Ich glaube, ich halluziniere, denn Coltons Kosename für mich rollt genauso rau und einfühlsam über seine Lippen wie früher.

»Ro«

Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich wende meinen Blick in die Richtung, nur um dem leibhaftigen Colton entgegenzusehen. So viel zum Abdruck meiner Erinnerung... Kurz wundere ich mich darüber, warum er plötzlich wieder Gebrauch von dem Spitznamen macht, aber es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er ihn kurzzeitig wieder verwendet.

Erst jetzt bemerke ich, dass sich das Auto nicht mehr bewegt und Colton in der offenen Wagentür steht. Ein kurzer Blick nach rechts bestätigt, was ich längst vermutet habe: Alle anderen sind bereits ausgestiegen, während ich bis zum Hals in Gedanken und alten Erinnerungen stecke. Ich spüre wie eine leichte Röte meine Wangen hinaufkriecht, die nur noch schlimmer wird, als meine Augen Coltons besorgten Blick treffen.

»Hey, ist alles o-«

»Kannst du vielleicht ein Stück zur Seite gehen, damit ich aussteigen kann? Ich plane eigentlich nicht die Nacht auf der Rückbank eines 9-Sitzers zu verbringen«

Ich rutsche über den Sitz, während die Schärfe meines Tonfalls durchs Wageninnere hallt. Perplex führt der Rockstar meine Bitte aus und ich schwinge meine Beine aus dem Wagen. Meine Converse treffen auf Asphalt und als ich mich umsehe, erkenne ich das einzige Hotel des kleinen Ortes wieder: Holidays in Paradise – was für eine Ironie.

»Wieder hier zu sein macht dir zu schaffen«

Colton steht plötzlich direkt neben mir und sieht mit mir zusammen am Haus empor.

»Mir geht's gut«

Ich finde ich klinge recht überzeugend, doch Colton und sein sarkastisches Schnauben sehen das wohl anders.

Songs, rockstars and the fucking pastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt