I.

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Sidon/sechs Jahre zuvor

Zwei ganze Woche – genau so lange harre ich jetzt schon in dieser fremden Stadt aus, während ich mich frage, was schlimmer ist. Weiterhin in Boston zu leben, mit den bekannten Straßen und dem Zimmer, das ich mir mein Leben lang mit Flor geteilt habe oder ein Teil dieses Kaffs zu sein. Anestry Creek ist kein Ort, an den ich freiwillig gezogen wäre. Denn in seiner engen Gemeinde, die nur aus religiösen Gutmenschen und einigen verbohrten Fanatikern besteht, fühle ich mich völlig fehl am Platz.

Selbst einen Tisch für Außenseiter scheint es an dieser Schule nicht zu geben, weshalb ich in der Pause mutterseelenallein im Essen herumstochere, während die Kopfhörer in meinen Ohren versuchen, meine Gedanken zu übertönen. Im Grunde genommen ist es sowieso egal, da ich nicht in der Stimmung bin, hirnlosen Small Talk auszutauschen oder ein Lächeln auf meine Lippen zu tackern. Die Musik ist jetzt mein Freund. Die Stille meide ich, weil sich dann meine Gedanken von der Leine reißen und sich auf mich stürzen.

Schnell versuche ich mich meine Konzentration wieder auf unseren Biolehrer zu lenken, aber es ist hoffnungslos. Seit... seit sie... seit einiger Zeit schweife ich während des Unterrichts ständig ab. So wie jetzt auch als ich verstohlen nach links schiele und dabei zusehe, wie der blonde Junge am anderen Ende des Klassenzimmers gelangweilt einen Stift in den Fingern dreht. Seit meinem ersten Schultag ist er der einzige, dem ich mehr als einen flüchtigen Blick geschenkt habe. Vermutlich ist mein Interesse an ihm nur eine weitere Überlebenstaktik, um unerwünschte Gedanken fernzuhalten. Ich weiß, dass es keine Schwärmerei ist, ich sehe vielmehr einen Verbündeten in ihm. In dem Meer aus quietschlebendigen Schülern, die gemeinsam lachen und sich miteinander vergnügen stechen seine gesenkten Mundwinkel genauso hervor wie meine Trauermiene.

Ich vermute, ich trage aktuell ein Stoppschild in meinem Gesicht herum, aber das ist nicht der einzige Grund, weswegen sich mir keiner nähert. Meine zerrissenen Jeans, die dunklen Farben und die Flanellhemden wollen nicht recht zu dem braven Vorortstil, der anderen Mädchen passen. Nach zwei Wochen kann ich sagen, dass ich in der perfekten Kleinstadt gelandet bin. Es gibt eine florierende Kirchengemeinde, Familienhäuschen, die sich an kleine Läden schmieden und massig Teenager, die wirken als würden sie ihre Eltern zum Abschied auf die Wange küssen. Ich falle in mehr als einer Hinsicht aus dem Rahmen...

Mein Herz verkrampft sich bei dem Gedanken, wie sehr Flor den großen Park und den niedlichen Blumenladen geliebt hätte und ich muss die Tränen, die sich in meine Augen drängen wollen, krampfhaft zurückdrängen. Sofort bricht eine Welle aus Schuldgefühlen und Trauer über mich herein, die mich mitreißt wie ein kräftiger Strom. Wie von selbst bohren sich meine Fingernägel in meine Handflächen, um mich davon abzuhalten in dem Gefühlstief verloren zu gehen. Es ist alles deine Schuld, flüstern die Stimmen und kratzen damit schmerzhaft an der Wunde, die der Tod meiner Schwester hinterlassen hat.

Verzweifelt blicke ich mich nach einer Ablenkung um, doch als ich mein Gesicht zu dem Jungen drehe, den die Lehrer allesamt mit Colton ansprechen, stelle ich fest, dass er nicht mehr an seinem Platz sitzt. Sofort breitet sich Panik in mir aus, denn obwohl es vollkommener Schwachsinn ist, einen Kerl, den man kaum kennt, als Anker zu benutzen, ändert das trotzdem nichts an der Tatsache, dass ich diesen Fehler begangen habe.

Okay, ganz ruhig, Sidon!, rede ich mir gut zu, Atme einfach langsam ein und aus. Ein und aus. Meine Lunge reagiert glücklicher Weise bereitwillig, doch trotz meiner regelmäßigen Atemzüge, baut sich das Engegefühl in meiner Brust immer weiter auf. Nein, nein, nein... Nicht hier, nicht jetzt! Ich... Oh Gott. Tu was! Tu was!

Meine Fingernägel bohren sich noch tiefer in meine Handfläche und ich beobachte wie die kleinen Halbmonde langsam wieder verschwinden, wenn ich meiner Haut eine kurze Pause gewähre. Aus einem Instinkt heraus überlege ich mir, was ich bereits über den blonden Jungen weiß, während ich weiterhin auf den leeren Platz stiere und es nicht wage meinen Fokus auch nur für einen Augenblick schleifen zu lassen. Ansonsten könnten nämlich tatsächlich ein paar Tränen über meine Wange kullern, was wiederum dazu führen würde, dass Mr. Sanchez auf mich aufmerksam wird... Und dann... Nicht darüber nachdenken!, schreie ich mich innerlich an, während sich in diesem Moment etwas in meinem Bauch zusammenzieht und ich mich ein wenig Richtung Tisch beuge.

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