Kapitel 52

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Sidon

Leicht und schwer. Erdrückt und befreit. Angespannt und erleichtert – Es ist fast so als hätte sich mein Bewusstsein zwei geteilt, nur um diese gegenteiligen Empfindungen spüren zu können. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist als würde mein kompletter Körper auf Autopilot laufen, weil zu viele Dinge auf einmal um ihn herum passieren und von innen heraus Chaos stiften. Ich habe die gestrigen Ereignisse kaum verarbeitet, da steht schon der finale Dreh vor der Tür und klopft unaufhaltsam gegen das dünne Holz.

Obwohl ich wusste, dass wir heute die letzte Episode drehen, habe ich irgendwie auf eine kleine Atempause gehofft. Woher ich die kriegen soll, habe ich mir natürlich nicht überlegt und jetzt stelle ich verdattert fest, dass mir niemand ein bisschen Zeit zum Sammeln in die Hände drückt.

Ich verdränge den Gedanken und konzentriere mich wieder auf das Gedicht, an dem ich gerade schreibe und das hoffentlich etwas Ordnung in meinen Verstand bringt.

Schutz und Leben

Fäuste trommeln auf die Pforten ein,

einst geöffnet,

doch verschlossen im Gram,

ein Meer aus Stimmen,

das sich erhebt,

ein Sturm der gegen die Mauern fegt

Gefühle bilden eine Landschaft

eine belebte Stadt

wie Türme recken sie sich

in Richtung Freiheit

in dieser Welt

hinter Mauern

die über Grenzen drängt

Stumm erwarten sie Enttäuschung,

erhärten sich vor Furcht,

doch die eingeschloss'ne Macht,

lässt die Wälle sich krümmen,

sie warten auf ein Zerbersten,

das Wachsen im Licht

die Entscheidung, die sich schließlich ganz von alleine trifft

»Es ist soweit!«, zwitschert Brees Stimme auf der anderen Seite der Tür. Erst jetzt wird mir wieder bewusst, dass ich in meiner Geraderobe sitze – wahrscheinlich nicht einmal eine Stunde davon entfernt, vor laufenden Kameras ein Liebesgeständnis darzubringen, das ich nicht mal im Dunkeln vor mich hin flüstern würde. Mein Herz hämmert so schnell los, dass ich Angst haben muss, dass es aus meiner Brust springt. Ich werfe meinem Spiegel-Selbst einen Blick zu und ich sehe genau das, was auch in meinem Inneren tobt. Meine Augen blinzeln panisch und meine Wangen sind von der Aufregung leicht gerötet. Dennoch erkennt man bei näherem Hinsehen auch ein wenig Ruhe in dem wogenden Blau. Es ist wie ich vorher gesagt habe: Leicht und schwer. Erdrückt und befreit.

»Sidon? Alles okay da drin? Ich will dich ja wirklich nicht hetzen, aber wenn du da noch länger drin bleibst, macht Mrs. Shine einen riesen Aufstand«

Erneut verpasst Bree der Tür einen heftigen Trommelschlag und ich zucke erschrocken zusammen. Ich weiß, dass ich mich nicht ewig hier drin vor der Tatsache verstecken kann, dass die Mauern aus dem Gedicht meine eigenen sind und anlässlich Coltons Nähe zu bröckeln beginnen.

Wie in Trance öffne ich die Tür und Bree fällt zugleich mit Shawna an ihrer Seite über mich her. Sie plappern von der Aufregung der Mitarbeiter wegen des letzten Drehs und anderen Dingen, die an mir vorbeiziehen wie undurchdringlicher Nebel.

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