(79) Neun von Zehn [2/4]

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Blaue und grellgelbe Einsatzfahrzeuge näherten sich unter dem gleichermaßen beängstigendem wie vertrauten Sirenengeheule und kamen wohl unweit von mir zum Stehen.
Alles, was um mich herum geschah, war verschwommen und mir zu weit weg, um es wirklich wahrzunehmen.
Alles war so unwichtig.
Ich starrte auf die pulsierende Wunde, die vor kaum ein paar Minuten noch ein ganzer Finger war.
Meine Hände begannen zu zittern und der feste Kloß in meinem Hals drückte unaufhaltsam die stummen Tränen der ungläubigen Verzweiflung aus meinen Augen.
Zu weit weg.
Es war alles zu weit weg.
Ich konnte nicht länger hinsehen; wandte meinen Blick ab.
Versuchte, das Geschehen auf der anderen Straßenseite irgendwie zu fokussieren.
Ein Polizeifahrzeug stand unweit von mir, zwei Rettungswagen waren quer auf der Straße geparkt und hinter ihnen ein NEF. Ich kniff meine Augen etwas zusammen und versuchte in der Menschenmasse zwischen den blinkenden Lichtern und hektischen Bewegungen einen Kollegen von mir auszumachen. Ich brauchte jetzt ganz dringend jemanden, den ich kannte. Doch die Wahrscheinlichkeit war schwindend gering – wir waren viel zu weit abseits meiner Wache.
Ich schloss einen Moment meine Augen.
Vom Gefühl her war ich gerade sehr dicht am völligen Zusammenbruch.
Noch immer weinte ich, es rauschte in meinen Ohren und das Blut floss noch immer pulsierend aus meinem Fingerstumpf, den ich schützend an mich drückte. Ich zitterte haltlos und hatte mich und meine Gefühle absolut nicht unter Kontrolle.

Ich öffnete meine Augen wieder und sah einen fremden Mann auf mich zukommen, der den Titel „Notarzt“ auf seiner Strickjacke trug.
Er war um die vierzig, hatte Geheimratsecken bis zum Mond und einen gewichtigen Ziegenbart am Kinn. Er war mir sofort unsympathisch.
„Hallo, Martins mein Name“, stellte er sich vor und hockte sich vor mich.
Ich sah ihn an, sagte nichts. Das konnte ich gerade einfach nicht. Ich sah an ihm vorbei und suchte verzweifelt ein bekanntes Gesicht in der fremden Menge.
„Hallo“, wiederholte Dr. Martins wieder und schnippte mir vor dem Gesicht rum, „wie geht es Ihnen?“
Noch immer reagierte ich nicht auf ihn.
Dr. Martins drehte sich nun auch nach hinten.
„Kann mal noch ein Sani kommen? Hier ist noch eine zweite verletzte Person!“, rief er in die Menge.
Eine zweite? Wie mit einem Faustschlag in den Magen wurde mir die Situation klar. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und ich spürte, wie sich mein Puls rasant beschleunigte.
Elina.
Wo war sie? Was war mit ihr?
Ich wollte aufstehen und merkte, wie meine Beine mich nicht mehr tragen wollten.
Wieder schossen mir Tränen in die Augen und die Angst verdrängte den Schmerz.

Eine neongelb gekleidete Person löste sich aus der Menge und eilte auf uns zu.
„Jacky!“, rief er erschrocken, kniete sich sofort neben mich und legte beruhigend einen Arm um mich.
„Franco“, schluchzte ich erleichtert und vergrub mein Gesicht in seiner Dienstjacke.
Ich spürte, wie er mir sanft über den Rücken strich und über meinen Kopf hinweg mit dem Notarzt sprach. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen und war gerade einfach nur froh, nicht allein zu sein.
Franco drückte mich leicht von sich und musterte mich nun besorgt.
„Was ist denn passiert?“, fragte er leise und hatte noch immer eine Hand auf meiner Schulter ruhen.
„Wie geht es Elina?“, erwiderte ich direkt und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.
Ich hatte Angst vor der Antwort.
Franco zögerte einen Moment.
„Der jungen Dame vorne geht es den Umständen entsprechend gut.“
Ich stöhnte innerlich. Ich wusste nicht, dass dieser alltägliche Satz so anstrengend sein konnte. Im Moment hasste ich ihn einfach. Franco musterte mich einen Moment lang.
„Sie ist bei Bewusstsein und ich habe bei ihr bisher nur eine Platzwunde gesehen“, fügte er dann hinzu und klang dabei beruhigend ehrlich.
Ich nickte nur. Wenigstens etwas. Dennoch spürte ich, wie mir wieder die Tränen in die Augen schossen und ich wandte meinen Blick ab.
„Jacky.“ Francos Stimme war ruhig, aber bestimmt. „Was ist denn passiert?“, versuchte er es weiter und suchte den Radialispuls an meinem rechten Handgelenk.
„Das Auto kam auf einmal... es war alles so plötzlich... der Typ war viel zu schnell.“ Das Geschehene schlug in Wellen über mir zusammen.
„Ganz ruhig, es ist alles gut.“ Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Darf ich mal?“, sagte er dann leise und deutete auf meine blutige Hand.
Ich nickte nur und blickte weg, als er sie vorsichtig besah. Auch der Notarzt lehnte sich vor und hatte einen Gesichtsausdruck aufgelegt, den man definitiv nicht bei einem Arzt sehen wollte.
Um auch dies nicht sehen zu müssen, schloss ich einfach meine Augen.
Mir war hundeelend zumute.
Im Moment wollte ich gerade einfach meine Augen vor allem verschließen.

Das musste einfach ein Albtraum sein.

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Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt