(65) Last der Liebe [5/5]

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Jackys PoV

Wir saßen noch eine Weile nebeneinander auf dem Sofa und redeten oder schwiegen einfach.
Und es ging mir danach besser. Als wäre meine Sicht geklärt worden.
Meine Gedanken an Oma waren sortierter; nahmen nicht mehr meinen gesamten Kopf ein.
Und ich war zuversichtlicher geworden. Dass ich irgendwann mit einem Lächeln an Oma zurückdenken kann. Dass ich eine Tasse Kaffee sehe und mir denke 'Oma hätte ihn besser gemacht.' Dass ich einfach einen Menschen in guter Erinnerung behalte, der mein Leben positiv geprägt hatte.
Und auch Franco schien es besser zu gehen. Mein unausgesprochenes 'Danke' hing in der Luft, und ich wusste, dass Franco es schon längst gehört hatte.
Es war, als hätten wir einfach all die Gedanken freigelassen, die uns festgehalten hatten.

Das schrille Geräusch unserer Melder ertönte. Doch es war nicht so schneidend wie vor einer halben Stunde, sondern eher wie ein Stück Alltag, das mir zeigte, dass alles noch beim Alten war; die Welt weiterging.
Dass das Leben ein Kreis war und mit jedem Ende auch etwas neues begann.

Wir sprangen auf und wollten zu unserem RTW eilen. Doch als ich meinen rechten Fuß aufsetzte, fuhr ein plötzlicher Schmerz durch ihn, den ich bislang gar nicht wahrgenommen hatte.
Ich zog scharf Luft ein und verharrte einen Augenblick.
Franco, der schon an der Tür war, blickte zurück. Sorge zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
"Was ist los?", fragte er sofort und war schon im Begriff, zurückzukommen.
Doch ich richtete mich auf und ging auf ihn zu.
"Ich glaube, ich habe mich heute Morgen etwas geschnitten. Wird schon gehen. Ich schau da nachher mal."
Franco sah mich einen Augenblick unschlüssig an, folgte mir dann aber in die Fahrzeughalle, als ich ihm vorausging. Er ließ sich auf dem Fahrersitz nieder und steuerte auf die Einsatzadresse zu.
Während der Fahrt bekamen wir dann nähere Informationen. Eine Jugendliche war ein paar Treppenstufen heruntergefallen und konnte ihren Fuß nicht mehr bewegen. Die Mutter war die Melderin. Anscheinend war das Mädchen psychisch gerade ziemlich beschäftigt.
Unser RTW hielt, Franco sah zu mir.
"Bereit?"
Ich nickte. "Bereit."

Mit dem Notfallrucksack auf dem Rücken folgte ich Franco, der schon auf die Mutter zugegangen war, welche uns ins Haus führte.
Die sechzehnjährige Tochter saß unten an der Treppe und hielt sich den Fuß. Als wir auf sie zugingen, sah sie auf und ich erkannte, dass sie geweint hatte.
Ich kniete mich neben sie.
"Hi, ich bin Jacky. Wie heißt du?"
"Stella", kam es mit erstickter Stimme zurück.
"Okay, Stella. Hast du dich noch woanders verletzt, als an deinem Fuß? Bist du zum Beispiel mit dem Kopf aufgeschlagen?", fragte ich sanft und musterte sie.
Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel eine Träne weg. "Ich hab mir nur meine Hände etwas aufgeschürft, als ich mich abgefangen habe", sagte sie leise und hielt mir ihre Handinnenflächen hin. Doch bis auf ein paar Schrammen war da nichts weiter schlimmes.
"Jacky, der Fuß könnte gebrochen sein", hörte ich Franco von hinten und drehte mich um, um ihm zu helfen.

Wenig später hatten wir Stella versorgt und ich wandte mich ihr zu, während Franco die Trage holte.
"Hey, sieh mich mal an", sagte ich leise, als sie wie teilnahmslos auf den Boden starrte.
Ein Hauch von Überraschung lag in ihrem Blick, als sie aufsah, und ich konnte die Gedanken förmlich in ihren Augen schrumpfen sehen.
"Was belastet dich?", fragte ich sie direkt.
Stellas Blick schweifte wieder ab und blieb dieses Mal an einem Bilderrahmen hängen. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Mann auf dem Foto, der stolz ein kleines Mädchen auf dem Arm hielt. Beide strahlten und wirkten einfach nur glücklich. Unwillkürlich musste ich an meine Oma denken.

Und als ich schon fast gar nicht mehr glaubte, dass Stella mir noch antworten würde, hörte ich dann doch ihre Stimme. Leise, unsicher, zerbrechlich.
"Mein Opa", murmelte sie, "ist schwer krank. Seine Heilungschancen sind ziemlich gering, sagen die Ärzte. Aber er ist immer so lebensfroh und erzählt so gerne Witze, das darf doch jetzt nicht einfach vorbei sein! Und vierundsiebzig ist doch wirklich noch kein Alter!"
Stella sah mich verzweifelt an und in ihren dunklen Augen glitzerten Tränen. Auch ich musste plötzlich damit kämpfen, nicht zu weinen. Und die Tatsache, dass ich ganz ähnliche Gedanken bei meiner Oma hatte, machte das alles keinen Deut besser.
Doch irgendwie schaffte ich es, meiner Stimme eine ruhige und feste Ausstrahlung zu geben, als ich sprach.
"Weißt du, Stella, reden ist das wichtigste", sagte ich schließlich. "Sprich über das, was dich belastet. Und was deinen Opa betrifft - manchmal passieren auch Wunder."

Ich drehte mich um, als ich eine Bewegung hinter mir wahrnahm und sah Franco im Türrahmen lehnen. Anscheinend hatte er schon eine Weile da gestanden.
Und er lächelte mich an.
Und es war sein Lächeln, was ich heute Morgen so vermisst hatte.
Sein Lächeln, welches seine Augen erreichte und ehrliche Freude ausstrahlte.
Und ich erwiderte es.
Und es fühlte sich echt und richtig an.

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Ich habe mal etwas anderes probiert- die Kapitel immer abwechselnd in den Sichten von Jacky und Franco. Um auch zu zeigen, dass beide einen anderen Ansatz haben, mit Verlust umzugehen.

Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt