(76) ...und selbst die Sterne erlischen... [2/3]

1.8K 71 17
                                    

Meine Schritte klatschten laut auf dem nassen Asphaltboden, als ich hastig über den Fußweg in Richtung der Wache eilte.
Es nieselte leicht und der Wind pfiff mir um die Ohren und ließ meinen Regenmantel rascheln. Meinen Regenmantel, den ich damals zum Abschluss meiner Ausbildung gekauft hatte. Meinen Regenmantel, den ich unbedingt in dem limitierten Grünton wollte; als Zeichen meines hoffnungsvollen Neuanfangs.
Ich ärgerte mich darüber, dass ich mit diesem Mantel so viele Gefühle verband. So viele Gefühle, die ich mittlerweile schmerzhaft meiner Vergangenheit zuordnen musste.

Ich zog mir meine Handtasche weiter die Schulter hinauf und richtete meinen Blick auf den dunkelgrauen Boden vor mir.
„Junge Frau – warten Sie kurz“, hörte ich eine Stimme neben mir und blieb mit einem Anflug von Ärger in mir stehen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte ich zu der älteren Dame neben mir, die in lumpigen Klamotten auf mich zu kam; ein altes Tuch um den Kopf geschlungen.
„Hätten Sie vielleicht eine kleine Spende für mich? Ich möchte -“
„Tut mir leid“, unterbrach ich sie schnell, „ich habe es gerade wirklich eilig.“
Die Alte nickte nur.
Doch während ich weiterging, wuchs die Wut auf mich selbst noch mehr; schien mir wie ein Brett quer im Hals zu stecken und mich am Atmen zu hindern. Was war los mit mir? Ich hatte gerade eine ältere, hilsbedürftige Person mit meiner Halbwahrheit der Pünktlichkeit abgewimmelt.
Wo blieb mein Herz?
Meine Hilfsbereitschaft?
Wo war ich?
Ich schluckte meine aufsteigenden Tränen herunter und hatte es wenige Minuten später beim Betreten der Wache geschafft, wieder eine monotone Miene aufzusetzen.

Im Umkleideraum war ich allein.
Wieder einmal nahm ich wahr, wie unangenehm mir das vertraute Gefühl war, mich auf die hellen Holzbänke zu setzen und meine Sachen in meinem weißen Spind zu verstauen.
„Hi Jacky“, tönte Paula fröhlich, als sie den Raum betrat.
Unwillkürlich zuckte ich zusammen.
„Hi“, sagte ich nur und ein eigenartiges Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht.
„Hier, das hast du gestern vergessen, als du aus der Wache gestürmt bist“, meinte sie und warf mir mein knallgelbes Halstuch zu.
Verdutzt fing ich es auf.
„Danke“, versuchte ich überzeugend zu sagen und das eigenartige Lächeln blieb in meinem Gesicht haften.
Ich nahm das Tuch und legte es zu meinen anderen Sachen in den Spind.
„Ist eigentlich alles gut bei dir?“, fragte Paula mich wie beiläufig, während sie ihre Jacke auszog. „Wirkst gerade nicht so glücklich.“
Ich starrte einen Moment in das Innere meines Spinds. Dann packte ich mir meine Haix und ließ mich auf die Bank sinken.
„Jaah, geht schon“, sagte ich bemüht leicht und spürte, wie mir trotz meiner Anstrengungen mein eigenartiges Lächeln allmählich aus dem Gesicht tropfte. "Ich bin heute einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden.“
Paula schien sich mit meinen Worten jedoch nicht zufrieden zu geben und runzelte nun leicht die Stirn.
"Dann müsstest du das ja schon eine ganze Weile machen", stellte sie fest, "hast du mal versucht, dich anders hinzulegen? Vielleicht stehst du dann mal mit dem richtigen Bein auf."
Einigermaßen verwirrt starrte ich sie an.
Sie seufzte.
"Wenn du nicht zufrieden bist, musst du etwas daran ändern, Jacky", erklärte sie ruhig und verlieh ihrer vorhergehenden Aussage damit einen ganzen Balken Ernsthaftigkeit mehr.
"Aber ich bin doch gar nicht -", begann ich und wollte ihr das Gefühl nehmen, dass es mir nicht gut ging. Doch Paula unterbrach mich.
"Im Endeffekt musst du das selbst wissen. Ich traue meinen Augen und sehe, dass du nicht glücklich bist."
Ihr Blick war dabei so durchdringend, dass ich wegsehen musste.
Mit zitternden Händen nahm ich einen meiner Schuhe und begann ihn anzuziehen.
Ich fühlte mich entwaffnet; erwischt.
Doch gleichzeitig sah ich mich auch nicht in der Lage, ihr irgendetwas über meine aktuelle Situation zu erzählen. Was sollte sie denn von mir denken?

Paula setzte sich jetzt neben mich.
„Du musst erstmal selbst wissen, was du genau möchtest. Du musst dich zu nichts zwingen. Keiner zwingt dich zu etwas.“
Tränen brannten mir nun in den Augen. Ich nickte nur; fühlte mich zum Sprechen nicht fähig.
Ich liebte meine Kollegen. So wie ich eigentlich auch meinen Job liebte. Oder geliebt hatte. Ich wusste gerade gar nicht mehr, wo ich selbst stand oder wie meine Gefühle waren.
Paula legte einen Arm um mich.
„Wir haben erst dann verloren, wenn wir aufgeben“, sagte sie weise. Diese Worte kamen unerwartet und überrascht sah ich zu ihr. „Ich habe einmal einen Patienten weiter reanimiert, obwohl mir meine Kollegen gesagt hatten, dass ich aufgeben solle“, erzählte sie. „Aber irgendwie – ich wusste einfach, dass sein Leben noch nicht zu Ende war. Dass es für ihn noch weitergehen würde nach dem, was er gerade durchmachte. Ich wusste, dass sich ein Ende anders anfühlen würde.“ Sie lächelte und irgendwie wurde mir warm ums Herz. „Und weißt du was? Er hat es überlebt und lebt mittlerweile in der Wohnung neben mir.“
„Herr Lenzendorf?“, fragte ich nun ehrlich verblüfft und starrte sie erstaunt an.
Sie nickte lächelnd.
Ich hatte Paulas Nachbarn manchmal gesehen, wenn ich bei ihr war; wir hatten uns immer mit einem Nicken gegrüßt. Es war völlig unmöglich, ihm anzusehen, dass er einmal schon so gut wie tot war.
Mir wurde schmerzhaft klar, wie beschränkt mein Sichtfeld eigentlich war.
Wieder wanderten meine Gedanken zu der Bettlerin von heute Morgen.
Wieder wurde mir innerlich schlecht.
Das Licht, das gerade zu scheinen begonnen hatte, schien direkt wieder ausgeknipst.
Ich vergrub meinen Kopf in meinen Händen.
„Öffne deine Augen, Jacky. Hinter den Wolken ist noch immer Sonne“, sagte Paula sanft und drückte mich leicht an sich.
Hinter den Wolken ist noch immer Sonne.
„Und wann gehen die Wolken?“, fragte ich mit erstickter Stimme.
„Wenn sie sich abgeregnet haben“, erklärte sie noch immer in ruhiger Tonlage.
Unsere Melder piepten.
Ich atmete tief durch.
Wir sahen uns an.
„Okay?“, fragte Paula.
„Okay“, nickte ich.

--------------

Macht noch etwas aus dem Tag <3

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt