(85) Goldmarie [1/6]

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Gelb.
Das war das erste, was ich in der Wohnung sehen konnte. Ich schob die angelehnte Tür einen Spalt weiter auf.
Gelbe Wände, gelbe Gardinen, gelber Teppich.
Die Farbe knallte mir förmlich entgegen und ich musste erstmal blinzeln.
„Frau Grün?" Ich kam nicht umhin festzustellen, wie unpassend dieser Name war.
Als meine neue Nachbarin mir nicht antwortete, trat ich einen Schritt in den Flur hinein.
Gelber Sessel, gelbe Tischdecke.
„Frau Grün?", versuchte ich es nochmal. „Sind Sie da?"
Stille.

Ich warf einen Blick hinter mich und sah dann wieder in die Wohnung. Unschlüssig verharrte ich einen Moment auf der Türmatte. Einerseits musste ich zum Dienst, andererseits war es äußerst absonderlich, dass die Tür meiner jungen Nachbarin fünf Uhr morgens halboffen war.
Ich entschied mich dafür, wenigstens zu prüfen, ob bei Frau Grün alles in Ordnung war. Vielleicht hatte sie am Abend einfach nur vergessen, ihre Tür zu verschließen.
Nach ein paar zögerlichen Schritten erreichte ich das Wohnzimmer.
Gelbe Blumen. Selbst gelbe Blumen hatte sie auf dem Tisch. Narzissen.
Neben der Vase war ein Teller, der noch vom Abendessen übrig zu sein schien. Messer und Gabel lagen schief am Tellerrand. In diese sonst so ordentliche Wohnung schien stehendes Geschirr ganz und gar nicht zu passen.

Langsam beschlich mich ein ungutes Gefühl.
Mit wachsamen Blick durchkämmte ich schnell alle Räume. In der Küche war nichts, das Bad war leer.
Auch das Schlafzimmer wirkte im ersten Augenblick verwaist. Doch als ich mich gerade umdrehen wollte, zog etwas meinen Blick auf sich. Etwas, das in starkem Kontrast zu dem hellgelben Kopfkissen stand.
Große, dunkelrote Flecken; halb angetrocknet, aber offensichtlich noch nicht besonders alt.
Ich spürte, wie meine Hände schwitzig wurden und mir ein seltsamer Schauer über den Rücken hauchte.
Hier war etwas passiert.

Mit zitternden Händen legte ich auf.

Bitte bleiben Sie vor Ort, die Polizei wird in wenigen Minuten da sein."

Einen Moment lang war ich versucht, Franco anzurufen. Dann beschränkte ich mich auf eine Textnachricht.

Es kam noch was dazwischen, komme später.

Ich ließ mein Handy in meiner Hosentasche verschwinden und schloss dann die Schlafzimmertür hinter mir. Ich konnte das nicht mehr sehen. Ich wollte hier nicht bleiben. Das fremde, beklemmende Gelb schnürte mir förmlich die Luft ab.
Vor der Haustür setzte ich mich auf die eisigen Steinstufen und blickte auf meine Uhr. Es waren erst zwei Minuten seit meinem Anruf bei der Polizeinotrufzentrale vergangen.
Zwei zähe, langgezogene Minuten.

Die Kälte der Treppe fraß sich in meine Hose. Ich vergrub meine Hände tief in meinen Jackentaschen und versuchte, das blutige Kissen aus meinen Gedanken zu schieben.
Ich hatte Marie Grün erst einmal kurz gesehen. Es war spätabends im Treppenhaus gewesen, vielleicht vor einer Woche. Sie hatte gerade ihre Wohnung verlassen, als ich vom Dienst gekommen war. Eine blumige Parfümwolke hatte um ihre blonden Haare geweht und eine große, schwere Silberkette hatte um ihren Hals geglitzert.
Jetzt, in der dunkelblauen Finsternis des Januarmorgens, konnte ich mich kaum noch an ihr Gesicht erinnern.
Ich wusste nur, dass sie noch relativ jung war, vielleicht sogar jünger als ich. Und ich wusste, dass sie seit wenigen Tagen neben mir wohnte.
Mehr wusste ich über Marie Grün nicht.

Drei Minuten nach meinem eigentlichen Schichtbeginn flackerte helles Blaulicht durch die dunkle Straße. Ich hob meinen Arm in ihre Richtung, zu mehr reichte es nicht.
Zwei tintenblaue Einsatzfahrzeuge parkten schief vor mir und vier Polizisten kamen auf mich zu.
„Jacky." Paul kniete sich vor mich. „Was ist passiert?"
„Erster Stock, die linke Wohnung." Meine Stimme war leise, aber erstaunlicherweise ziemlich fest. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Meine Nachbarin ist nicht da, aber die Tür war offen und im Schlafzimmer ist Blut."
Ich schwieg und blickte nach unten. Ich starrte auf den Boden zwischen vier Paar schwarzen Stiefeln und wartete darauf, dass etwas geschah. Dass jemand mir sagen würde, was zu tun war; dass jemand Marie Grün suchte.
Die Stimmen über mir vermischten sich und ich mühte mich nicht, sie zu verstehen. Ich hörte kurz Moritz, kurz Marc, dann waren sie weg.
Drei Paar Stiefel zogen an mir vorbei und verschwanden im Hausflur.
„Jacky." Paul war noch da. „Wir gehen bitte erstmal ins Auto, sonst erfrierst du hier noch."
Mit einer sanften Bestimmtheit umschloss er meine kalten Hände und zog mich auf die Beine.
Ein flaues Gefühl breitete sich in mir aus und ich klammerte mich haltsuchend an seinen Unterarm.
Im spärlichen Licht der Straßenlaternen zeichnete sich deutliche Besorgnis auf seinem Gesicht ab.
„Langsam - geht's dir gut?" Nein.
„Ja."
Wenig überzeugt öffnete er mir die Beifahrertür und ein Schwall Wärme kam mir entgegen.
Paul setzte sich neben mich und zog seinen Notizblock hervor.
„Dann erzähl mal."

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Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt