(54) Reanimation [1/4]

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"Die schmiert uns hier gleich ab", rief Franco uns zu, der engmaschig das EKG überwachte und seinen Blick gerade auf die Patientin gerichtet hielt.
Phil nickte mit zusammengebissenen Zähnen und reichte mir eine leere Spritze. Er saß am Kopf der jungen Frau und beatmete sie mit dem Ambu-Beutel.

Generell war die Stimmung im Team gerade zum Zerreißen gespannt. Es lag ein ungewohnt hoher Druck zwischen uns. Als würde die Luft auf ein Vielfaches angestaut werden und könnte sich bald in einer gigantischen Druckwelle entladen.

Unsere Patientin war von einem Auto erfasst und durch den Aufprall sehr schwer verletzt worden. Ihre wohl eigentlich symmetrischen und wirklich schönen Gesichtszüge waren so sehr entstellt, dass man es eigentlich kaum noch als Gesicht erkennen konnte. Unwillkürlich ließ ein Blick über ihren Kopf eine unangenehme, schwallartige Übelkeit durch mich schießen und ich musste wegsehen. Aber auch der Anblick ihres lädierten, beinahe zur Unkenntlichkeit entstellten Körpers forderte von mir einiges an Selbstbeherrschung, um professionell zu bleiben.

Meine Hände zitterten, als ich die leere Spritze beiseite legte und Omar beim Abdecken einer offenen Fraktur am Bein der jungen Frau half.
Meine Finger unter den Handschuhen waren schwitzig und kalt und ich hatte selten so viel Angst, etwas falsch zu machen.
Um zu erkennen, dass das Leben unserer Patientin nur noch am seidenen Faden hing, brauchte ich keine Einschätzung eines erfahrenen Arztes. Und um zu wissen, dass wir ihre letzte Chance waren, diesen Faden zu stabilisieren, bevor er riss, brauchte ich auch nicht die mahnende Stimme, die aus meinem Unterbewusstsein hervorkroch.

Meine Handschuhe waren voller Blut. Genau wie Phils und Omars. Und Francos. Eigentlich hatte die junge Frau schon viel zu viel Blut verloren.

Die Kommunikation im Team war heute nur noch Handeln. Selten gaben Phil oder Franco in kurzer und knapper Form Informationen bekannt, die relevant waren. Ich hingegen fühlte mich nicht wirklich in der Lage, überhaupt zu sprechen. Mein Hals war trocken und kratzig, aber selbst etwas zu Trinken hätte dieses Gefühl nicht bannen können. Dieses unangenehm berauschende Gefühl der Hoffnungslosigkeit, welches langsam aber sicher in mir hochkroch, während ich es mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte.

"Rea!" Francos Stimme hallte in meinem Kopf nach. Und seine Worte waren wie ein Tritt in den Magen. Ein Tritt, der mir die Luft nahm und mich unsanft und schmerzhaft nach hinten riss.
Automatisch kniete ich mich neben den Oberkörper der jungen Frau und verschränkte meine Hände über ihrem Herzen. Da wir ihr T-Shirt schon längst aufgeschnitten hatten, hatte ich direkten Blick auf den von Hämatomen übersäten Brustkorb und die fast schon tiefblaue Verfärbung an der linken Seite des Bauches.

Während ich mit Drücken anfing, schoss Adrenalin durch mein Blut und ließ mein Herz schneller schlagen. Mein Herz schlug. Es schlug. Ihres nicht.
Ich fühlte mich auf einmal viel lebendiger als vorher und es fühlte sich fast so an, als würde das Herz in meiner Brust mir sagen wollen, dass das Leben doch so wertvoll ist. Kämpfe.
Während ich drückte, versuchte ich die wirren Gedanken, die in meinem Kopf zu verpuffen schienen, zu ordnen. Die Theorie, die ich drei Jahre lang erlernt hatte, schien so weit weg. Diese Puppe, der wir damals immer eine Herz-Druck-Massage geben sollten, hätte von der Realität nicht weiter entfernt sein können.

Vor mir liegt ein Mensch, wurde mir schmerzlich bewusst.
Ein Mensch, mit noch unwissenden Angehörigen.
Ein Mensch mit einer Geschichte.
Ein Mensch, dem vielleicht erst heute etwas Glückliches widerfahren war. Der eine Beziehung hatte. Freunde, die ihn brauchten. Familie, die er liebte.
Ein Mensch, der gerade so kurz davor war, die Welt für immer zu verlassen.

In meinem Kopf lief leise, mit der Situation fast schon zynisch, das Lied 'Stayin' alive'. Wie in der Theorie erlernt, drückte ich zu dem Rhythmus, versuchte, alles andere auszublenden. Versuchte, dass meine Arme stark und durchgedrückt blieben. Obwohl meine Angst, zu versagen, nie größer war. Die Angst, genau jetzt, genau heute etwas falsches zu machen, was einem Mensch das Leben kosten könnte. Selten war mir die Verantwortung meines Berufes und meines Handelns so deutlich vor Augen wie jetzt.
Ich fokussierte mich auf das entstellte Gesicht der jungen Frau. Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Ihren Namen, den sich vielleicht liebende Eltern vor einigen Jahren ausgedacht haben, als sie monatelang Vorfreude auf ihre Tochter hatten.
Ich bin für sie verantwortlich.
Jetzt bin ich es.
Unsere Patientin musste ungefähr so alt sein wie ich, vielleicht ein, zwei Jahre jünger.

Und zum Sterben definitiv noch zu jung.

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Macht noch etwas aus dem Tag <3

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt