(81) Neun von Zehn [4/4]

1.6K 53 14
                                    

„Es ist eigentlich ziemlich ironisch, oder?“ Elinas Beine baumelten von ihrem Bett, auf welchem sie saß und gedankenverloren aus dem Fenster starrte.
„Was? Was ist ironisch?“ Ich lag auf dem Bett neben ihr und wandte meinen Kopf jetzt in ihre Richtung.
„Naja, auf der Hinfahrt zum Restaurant haben wir darüber Scherze gemacht, jemanden umzufahren. Und dann wurden wir umgefahren. Klingt schon krass. Und das ist so schnell passiert.“
„Jaa, wirklich schnell“, murmelte ich und taxierte nun einen unbestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Manche Dinge kann man irgendwie einfach nicht begreifen. Sie sind so schnell und unvorhersehbar und lassen dann prägende Narben zurück. Oder abgetrennte Finger.
Ich verzog leicht mein Gesicht.
„Übrigens“, setzte Elina neu an und griff nun nach einer großen Tüte auf ihrem Nachttisch, „war Katarina vorhin da, während du bei der Untersuchung warst. Und sie glaubt wohl, dass wir hier nichts zu Essen bekommen.“
Mit diesen Worten kippte sie eine Wagenladung an Pralinen, Bonbons, eingepackten Kuchen und eine Dose selbstgebackener Kekse auf ihre Bettdecke.
„Holla die Waldfee.“ Ich richtete mich etwas auf und blickte auf das Meer an schillernd bunten Naschereien. Da hatte es ja jemand echt gut gemeint.
„Wow, also dafür müssen wir uns unbedingt revanchieren“, stellte ich fest.
„Sie hat echt eine Macke, oder?“, sagte Elina liebevoll. „Dabei werde ich sogar morgen früh schon entlassen. Nur du musst hier noch drei Tage bleiben.“
Viel mehr Theatralik hätte nicht in einen Blick gepasst.

Einige Stunden später klopfte es an der Tür und bevor ich die Chance hatte, „herein“ zu sagen, stand Flo schon im Zimmer und strahlte mich an.
„Hallihallo“, er deutete eine Verbeugung an und nahm auf einem Stuhl neben mir Platz.
„'n Abend.“ Ich konnte seine Energie nicht ganz teilen.
„Wo ist denn Elina?“, fragte er wie beiläufig, als er das leere Bett registrierte.
„Spazieren“, sagte ich ziemlich kurz angebunden.
Flo sah mich irritiert an.
„Also durchs Krankenhaus“, präzisierte ich meine Aussage. „Ihr ist langweilig.“
„Ah“, machte Flo. „Hör mal, ich wollte dir sagen, dass die Polizei den Unfallfahrer gefunden hat. Er steckte ein paar hundert Meter weiter mit seiner Karre im Zaun. 2,5 Promille.“ Er verzog angewidert das Gesicht.
Ich nickte nur.
„Du machst dir doch nicht etwa Vorwürfe, oder?“
Ich konnte ihn nicht ansehen. Aber mein Gesichtsausdruck schien ihm Antwort genug.
„Jacky“, sagte er leise und umarmte mich mit aller Vorsicht, „2,5 Promille. Er ist der Idiot, okay? Er ist viel zu schnell gefahren. Er hat euch in Lebensgefahr gebracht. Es ist seine Schuld. Er allein.“
Flo nahm meine rechte Hand in seine.
Und obwohl ich am liebsten wieder heulen würde, taten seine Worte unerwartet gut. Sie schienen das schlechte Gewissen von der objektiven Realität abzukratzen. Von der objektiven Realität, in welcher ich schuldlos war.
„Sieh mal“, setzte Flo nochmal an, „der Typ hat null Verantwortung gezeigt. Er war egoistisch und vor allem sehr, sehr dumm. Du hast jedes Recht, auf ihn sauer zu sein. Du darfst ihm Vorwürfe machen. Aber dir selbst nicht, okay?“
Endlich schaffte ich es, Flo in die Augen zu sehen.
„Das bedeutet mir wirklich viel.“ Meine Stimme war leise, aber erstaunlich fest.
Flo lächelte traurig. „Ich will doch nur, dass du glücklich bist.“

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis meine Selbstvorwürfe tatsächlich verschwanden, aber jeder Tag und jedes Gespräch schienen mehr Licht in diese Dunkelheit zu bringen. Dass mir ein Finger fehlte, war bald keine schmerzhafte Erinnerung an ein dummes Eigenversagen, sondern ein Mahnmal der Realität für Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Ich merkte, dass es mich in meinem Alltag nicht einschränkte und ich sah es mehr denn je als Glück an, den Unfall überhaupt überlebt zu haben.

Heute war mein letzter Tag hier und ich konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu gehen.
Zweimal waren Hannah und Paul dienstlich hier gewesen, hatten meine Sicht des Unfalls aufgenommen und mich bezüglich der polizeilichen Maßnahmen auf dem Stand gehalten. Katarina und die halbe Wache waren tagtäglich bei mir gewesen, da mich besonders nach Elinas Entlassung die reinste Langeweile plagte. Immerhin war ich laut Franco schon wieder "ganz die Alte" und auch Phil räumte ein, dass man meine Energie "auf der Wache ziemlich vermisst."

Bei der Abschlussvisite von Charlotte registrierte ich, dass auch Elina in der Tür stand. Und neben ihr... Flo. Seine Hand hielt die von Elina umschlossen und ihre Finger waren ineinander verschränkt.

Falls es kommt, dann kommt es auf seinem eigenen Weg.

Elinas Wangen waren rosa, ihre Augen funkelten und sie lächelte mir leicht zu, während sie sich an Flos Schulter lehnte.

Irgendwann und irgendwie, vielleicht dann, wenn man es am wenigsten erwartet.

Flo gab ihr einen sanften Kuss auf den Scheitel und ein friedlicher Ausdruck breitete sich auf Elinas Gesicht aus.

Und manche Pläne gehen auf.

-----

Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt