(70) Lebhaft [1/2]

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Warum hatte ich es nicht getan?
Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Sie ließ mich nicht los.
Sie verfolgte mich.
Fraß sich tief in mich.
Als ein Ausdruck währender Reue.

Als ich heute zur Wache kam, schien es ein Morgen wie jeder andere zu sein.
Frühdienst mit Dustin auf dem RTW und ein billiger Kaffee zu Schichtbeginn.
"Morgen bringe ich mal eine neue Packung mit, das Zeug kann man ja nicht trinken", beschloss ich und verzog angeekelt mein Gesicht, nachdem ich einen Schluck aus meiner Tasse genommen hatte.
Phil grinste zu mir.
"Hah, endlich", sagte er triumphierend, "Ich dachte schon, am Ende müsste ich neuen Kaffee mitbringen."
Ich sah genervt zu ihm rüber. Dann musste ich auch grinsen.
"Für das Allgemeinwohl", sagte ich betont bedeutsam und machte eine kleine Verbeugung.
Phil lachte auf.
"Dann freue ich mich auf morgen", sagte er grinsend, "Endlich mal wieder guter Kaffee."
Genüsslich lässt er sich auf die Couch sinken und überschlägt seine Beine.
Ich wollte gerade zu etwas ansetzen, als mein Melder piepte und ich seufzend auf das kleine Display sah.
"Ganz viel Spaß", kam es von Phil, der mir nun ganz wie die Queen zuwinkte.
Drohend deutete ich mit meinem Funkgerät auf ihn.  "Ich bestell dich gleich nach, pass mal auf."
Doch Phil grinste nur, als ich die Tür hinter mir schloss und Dustin zum Wagen folgte.
Als wir an der Unfallstelle auf der Autobahn ankamen, liefen uns Anne und Dirk von der Polizei entgegen, die uns nachbestellt hatten.
Sie berichteten uns, dass ein Auto in die Leitplanke gerast sei und der Fahrer nun wohl eine kleine Platzwunde habe.
"Hallo, Wendt vom Rettungsdienst, wie geht's Ihnen?", fragte ich, als ich mich zu diesem hockte.
"G-geht schon", murmelte er.
"Darf ich mal sehen?", fragte ich und deutete auf seinen Kopf.
Er nickte leicht und ich begann ihn zu untersuchen.
"Ist eher oberflächlich, aber wir würden Sie trotzdem zur Abklärung mit ins Krankenhaus nehmen", erklärte ich ihm und wieder nickte er.
"Ist sonst alles in Ordnung bei Ihnen?", fragte dann Dustin, der mittlerweile auch neben mir kniete.
"Ja", sagte der Mann, "sonst ist alles okay."
Dustin und ich halfen ihm auf die Beine und waren schon auf dem halben Weg zu unserem RTW, als wir Rufe der Polizisten vernahmen.
"Sanis! Kommt nochmal, hier ist noch eine Person!"
Nach einem kurzen Blickwechsel mit Dustin rannte ich zu den Polizisten, während mein Kollege den Patienten allein zum Wagen brachte.
"Was ist passiert?", rief ich in die Richtung, in der ich Anne und Dirk ein Stück hinter der Leitplanke neben einer Frau hocken sah.
"Keine Ahnung!", kam es zurück, "Wir haben sie hier so gefunden, ich weiß nicht, ob sie etwas mit dem Unfall zutun hat."
Ich kletterte über die Leitplanke und rutschte ein Stück Hang hinunter, bis ich bei den Polizisten war.
Die Frau war bewusstlos und hatte nur noch einen schwachen Puls. Ihr weißblondes Haar hing ihr in die Stirn und unterstrich ihre Blässe.
"Bestell bitte auf jeden Fall mal RTW und NEF nach", bat ich Anne, die daraufhin zu ihrem Funkgerät griff.

Beim Eintreffen der weiteren Rettungsmittel war die Patientin noch immer bewusstlos und ich wandte mich um, als ich näher kommende Schritte hörte, um eine Übergabe an den Notarzt zu machen.
Als ich erkannte, dass es Phil war, der da gerade auf mich zukam, musste ich grinsen.
Er, der sich meiner vorigen Worte erinnerte, schlug mir leicht auf die Schulter, bevor er seine gesamte Aufmerksamkeit meiner Übergabe und der Frau schenkte.
"Und ihr wisst wirklich gar nicht, wie sie hierher gekommen ist?", hakte er nochmal nach.
"Überhaupt nicht", bestätigte ich. "Du Phil, ich geh dann erstmal wieder zu meinem initialen Patienten, ja?", setzte ich noch dazu und Phil nickte.

Nachdem Dustin und ich wenige Minuten später bereit waren, endlich loszufahren und ich noch ein paar letzte Informationen mit Phil austauschte, sah ich es plötzlich.
Ohne es realisieren zu können, starrte ich es an.
Das silberne Auto, was durch die Absperrungen hindurch auf uns zugerast kam.
Auf Phil und mich.
Und ich wie festgefroren war.
Das Silber des Autos reflektierte das Licht und blendete mich.
Die Motorengeräusche schienen viel lauter als sonst zu sein.
Das Auto raste, wurde nicht langsamer.
In einem letzten Versuch meines Körpers, mich selbst zu retten, stolperte ich nach hinten. Ich verlor den Halt, stürzte rücklings über die Leitplanke und schlug hart auf dem Boden auf.
Und während ich dort lag, war ich unfähig, wegzusehen; unfähig, zu handeln.
Wie in einem Actionfilm schaute ich zu, wie Phil von dem Auto ruckartig mitgerissen wurde.
Wie in Zeitlupe sah ich, wie er durch die Luft flog.
Ein schillernder Fleck aus Gelb und Rot.
Minutenlang schien er in der Luft zu schweben, bevor er mit einer schier banalen Endgültigkeit auf dem Asphalt aufschlug.
Und dieser Aufprall schien den Boden zu erschüttern.
Ich schrie.
Ich schrie, als ich Phil sah, der auf der Straße lag, unnatürlich verrenkt.
Ich schrie, weil ich die Realität damit von mir fernhalten wollte.

Phil war tot.

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Es ist lange her, aber noch gibt es dieses Buch hier.
Es ist zeitlich bedingt und aufgrund persönlicher Veränderungen in meiner Prioritätenliste weit hinabgesunken, aber ich habe es nicht vergessen :)
Und ansonsten- und ach, hab ich das lange nicht mehr geschrieben- macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt