(72) Neuschnee [1/3]

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An einem frostigen Dezembermorgen trat ich aus dem Haus und zog die Tür hinter mir zu.
Ein Schauer fuhr durch mich, als eine eisige Windböe die Luft durchschnitt.
Bibbernd zog ich meinen Schal enger um mich und sah meinen eigenen Atem im Dämmerlicht der Straßenlaternen Wölkchen formen.
Meine Augen waren noch müde und ich sehnte mich einfach nur danach, wieder ins Bett fallen zu können. Aber der Fluch der Frühschicht hatte mich mal wieder getroffen. Am zehnten Tag in Folge.
Meine Lust war gegen Null tendierend, als ich in Richtung unserer Wache stapfte und meine Hände in meinen Manteltaschen vergrub.
Ich stierte böse auf den Gehweg vor meinen Füßen und kickte missmutig einen kleinen Stein vor mir her.
Einzig und allein der Gedanke daran, dass wir heute eine neue Kollegin bekommen würden, hob meine Stimmung ein wenig.
Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich heute sogar mit ihr Dienst. Hoffentlich war sie nett und nicht so zickig wie die Zimtziege, die das letzte Mal bei uns war. Das konnte ich gerade wirklich nicht gebrauchen.
Ich kickte den Stein in die Hecke am Wegesrand und sah seufzend auf. Ich war fast da.
Mies gelaunt und tiefgefroren trat ich in die Umkleide und traf erstmal keinen an. Was vielleicht auch besser war, wenn man mal meinen Gemütszustand bedachte.

Ich zog meine Haix an und wollte gerade die Umkleide wieder verlassen, als ich beinah in eine junge Frau reinlief. Mitten in der Tür blieben wir beide überrascht stehen.
Ihre Ausstrahlung überrannte mich sofort.
"Oh, sorry", sagte sie und grinste mich schief an, "Ich bin Theresa, die neue Kollegin."
Etwas überfordert blickte ich sie an. Bis mein Gehirn ansprang, vergingen einige Sekunden.
"Jacky", sagte ich, "ich bin Jacky", setzte ich erklärend hinterher. "Freut mich. Sehr."
Ich lächelte und kam mir irgendwie sehr albern dabei vor.
Wunderbar, bester erster Eindruck.
"Nimms ihr nicht übel, sie hat neun Frühschichten hinter sich."
Theresa und ich wandten uns zur Seite und sahen Franco an der Wand gegenüber lehnen. Er grinste mir zu und erntete dafür einen ähnlich bösen Blick wie der Gehweg eine halbe Stunde vorher.
"Oh, ich meine kein Problem", sagte Theresa lachend und ihre Augen funkelten belustigt. "Ich kenne wenige Leute, die wirklich Morgenmenschen sind."
"Ich bin jedenfalls keiner", murmelte ich, schob mich an den beiden vorbei und lief auf den Aufenthaltsraum zu. Franco und Theresa folgten mir und wir ließen uns mit den anderen am Tisch nieder.
Sofort legte ich meinen Kopf auf meine Arme und schloss meine Augen.
Neben mir hörte ich, wie meine Kollegen begannen Theresa auszufragen und sie ihnen antwortete.
Sie war wohl 27, von Nürnberg nach Köln gezogen und wohnte mit ihrer älteren Schwester zusammen.
Doch lange konnte ich ihren Erzählungen nicht folgen.
Ihre Stimme war hell und weich und hatte etwas beruhigendes an sich.
Etwas sehr beruhigendes…

Ich musste in den Sekundenschlaf abgerutscht sein, denn als ich mit dem nervtötenden Geräusch meines Melders hochfuhr, waren kaum fünf Minuten vergangen. Die hellen Deckenlampen blendeten mich und ich kniff meine Augen zusammen, um die Intensität des Lichts zu verringern.
Die Stimmen der anderen waren vom Gefühl her sehr viel lauter und ich brauchte einen Moment, um die Situation zu verstehen.
Ich war immer noch am Tisch.
Und musste zum Einsatz.
Jetzt.
Als mein Gehirn diese Information verarbeitet hatte, stand ich schnell auf und lief mit Theresa zu unserem RTW.

Während der Fahrt plagte mich dann aber doch etwas das schlechte Gewissen.
"Es tut mir wirklich leid, dass ich gerade so ungesprächig und mies drauf bin", sagte ich entschuldigend, "Das ist nicht der Normalzustand."
Theresa sah vom Steuer kurz zu mir rüber.
"Aber das ist doch kein Problem", sagte sie freundlich, "wir kennen das doch alle irgendwie. Und außerdem hat mir Franco schon erzählt, wie energiegeladen du sonst bist." Sie grinste.
Ich wollte gerade noch etwas erwidern, als sie den RTW am Straßenrand hielt, wo uns eine Frau winkte. Ich schob meinen Gedanken beiseite und legte meinen Fokus erstmal auf meinen Job.
Franco würde auf jeden Fall noch was zu hören bekommen.
Ich stieg aus dem Wagen und schnappte mir den Rucksack, ehe ich meiner Kollegin folgte, die schon neben einem Kleinkind und seiner Mutter hockte.
Der kleine Junge war offenbar von einer Schaukel gefallen und weinte vor sich hin.
Sein Arm tat ihm weh und ein kleiner Kratzer war auf seiner Wange.
"Der Arm ist höchstens verstaucht", erklärte Theresa freundlich, nachdem sie sich um den Jungen gekümmert hatte, "wir werden Sie und Ihren Sohn mitnehmen und das im Krankenhaus abklären, aber ich bin mir sicher, dass Sie nicht lange bleiben müssen."
"Also ist das nichts schlimmes?", fragte die Mutter noch einmal nach.
"Es ist nichts schlimmes", bestätigte Theresa ihr ein weiteres Mal geduldig.

Die Fahrt zur Klinik verbrachte ich damit, die Mutter weiterhin zu beruhigen, die sich fortwährend große Sorgen um ihren Kleinen machte. Sie hatte ihn auf ihrem Schoß und saß mir gegenüber.
"Es ist alles gut", versicherte ich ihr ein weiteres Mal und musste aufpassen, dass mein ohnehin schon strapazierter Geduldsfaden nicht riss.

Als wir die beiden an das Personal der Notaufnahme übergeben hatten, war ich dann doch erstmal ganz froh.
"Richtig niedlich, der kleine Leopold, oder?", sagte Theresa fröhlich, als wir das Krankenhaus verließen und zurück zu unserem RTW liefen.
"Jaah", sagte ich, obwohl ich mich gar nicht wirklich mit dem Jungen auseinander gesetzt hatte, "aber seine Mutter war etwas anstrengend."
"Aber ihr Verhalten ist auch verständlich", sagte meine Kollegin nickend. "Oh, sieh mal!", rief sie plötzlich und griff nach meiner Hand, damit ich stehen blieb.
Nur wenige Meter vor unseren Wagen verharrten wir und blickten hinauf zu dem wolkigen Himmel.
Kleine weiße Flocken rieselten durch die Luft und blieben auf dem Boden liegen.
"Neuschnee!", strahlte Theresa euphorisch und drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis.
"Wunderbar", brummte ich und zog mir meinen Reißverschluss höher, um unerwünschten Besuch in meinem Nacken zu vermeiden.
"Ich liebe Schnee", rief Theresa lachend und ihre hellen Augen strahlten in den weißen Himmel hinauf.
Der Schnee tanzte um uns, während wir noch auf dem Parkplatz standen und das erste Mal musterte ich meine neue Kollegin wirklich.
Einzelne Schneeflocken hatten sich in ihrem blonden Haar verfangen und ließen die hellen Strähnen glitzern.
Sie schloss ihre Augen und ließ einen Moment lang mit einem seligen Gesichtsausdruck die tanzenden Flocken auf ihr Gesicht fallen.
Und in diesem Moment wirkte sie wie ein glückliches Kind.
Vielleicht war es genau das, was irgendwo in mir etwas bewegte.
Möglicherweise dieser Moment, in welchem ich sie so glücklich sah.
Aber ich begann zu lächeln.
Ich stellte mich genau neben sie und schloss ebenfalls meine Augen.
Kleine, kühle Flocken kitzelten mich und schmolzen sofort auf meiner Haut.
Ich öffnete meine Augen wieder und fing ein paar Schneeflocken ein. Ich betrachtete die kleinen Eiskristalle auf meiner Hand und fühlte mich wieder wie vor beinahe zwanzig Jahren.
"Ich habe ganz vergessen, wie schön Schnee ist", sagte ich leise.
Theresa sah zu mir und wir grinsten uns an.
"Man vergisst vieles, wenn man sich nur auf die negativen Dinge fokussiert", sagte sie weise.

Während wir wieder zur Wache fuhren, folgte mein Blick dem Schneetreiben um uns, als würde ich es das erste Mal sehen und lachend erzählten Theresa und ich uns von unserer Kindheit.
Als wir wieder in die Wache traten, war Theresa immer noch am Grinsen und ihre Wangen waren durch die Kälte leicht rot verfärbt. Ich sah wohl nicht anders aus, denn als wir in den Aufenthaltsraum traten, sah Franco mich verwundert an.
"Was hast du denn mit Jacky angestellt?", fragte er belustigt an Theresa gewandt.
"Es schneit, Franco!", rief ich, als wäre es die Erklärung der Weltentstehung und tanzte zum Fenster.
Er sah kurz hinaus. "Ja? Und was heißt das, außer, dass ich wieder schippen darf?"
Theresa und ich sahen uns an und sagten dann synchron "Er versteht es nicht."
Dann grinsten wir wieder.

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Ich wünsche euch allen trotz der Umstände frohe Weihnachten! <3

Das heutige Kapitel ist das längste bisher und die Geschichte irgendwie ein Weihnachtsspecial.
Es wird leichter (wie Schnee xD) und wird nicht viel Drama beinhalten. Jedenfalls nicht in der bekannten Form.

Macht noch etwas aus dem Tag <3

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt