(61) Last der Liebe [1/5]

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Jackys PoV

Während ich mir ein Glas Wasser eingoss, warf ich einen Blick auf meine Uhr. Ich hatte noch etwas Zeit, bis ich zum Dienst musste.
Ich lehnte mich an den Tresen und nippte an dem Glas, während ich mein Handy hervorholte. Die eine Systembenachrichtigung schob ich achtlos beiseite und wandte mich den beiden neuen Nachrichten zu, die von meiner Freundin kamen.
»Hast du Lust, heute Nachmittag nach deinem Dienst mal zu telefonieren? :D«
»Will mal wieder was von dir hören«
Ich lächelte. Seit Laura vor wenigen Monaten nach Berlin gezogen war, hatten wir deutlich weniger Kontakt. Und ich vermisste es wirklich, mit ihr über Gott und die Welt zu reden und einfach abzuschalten.

Meine Finger schwebten schon über der Tastatur, als plötzlich ein Anruf auf dem Display auftauchte.
Mama.
Einen Augenblick lang war ich verwirrt. Wir telefonierten ziemlich selten. Und erst recht nicht fünf Uhr morgens.
Mit gerunzelter Stirn zog ich den grünen Hörer.
"Hallo Mum", sagte ich und hörte selbst den überraschten Unterton in meiner Stimme. "Was gibt's in dieser Frühe?"
Einen Moment lang war Schweigen.
"Mum?"
Stille.
Ich kontrollierte kurz, ob ich vielleicht versehentlich aufgelegt hatte. War nicht.
"Mum?", sagte ich erneut und meine Stimme schien hallende Echos zu werfen.
"Jacky?" Ihre Stimme war leise, klang verweint. Augenblicklich schoss ein eiskalter Schub Sorge durch mich und hinterließ eine unangenehme Gänsehaut. Meine Hand klammerte sich automatisch fester um das Wasserglas.
"Ja, ich bin's", sagte ich angespannt mit rasendem Puls und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.
Meine Mum sagte schon wieder nichts und es fühlte sich so an, als würde sich ein glühend heißer Dolch quälend langsam in mein Herz bohren.
"Was ist, Mum?", fragte ich leise und war mir unsicher, ob ich die Antwort überhaupt wissen wollte.
Ich hörte, wie meine Mutter tief durchatmete.
"Oma Renate ist tot", sagte sie schließlich ziemlich schnell hintereinander.
Dieser Satz durchfuhr mich wie eine eisige Windböe.
"Nein", hauchte ich.
Mein Glas landete auf dem Boden und zerbarst in tausend kleine Scherben. Wie mein Herz. Das durfte nicht wahr sein.
Meine Mutter sagte noch etwas, aber ich konnte es nicht ganz verstehen. Die Worte nicht ordnen, die sie sagte. Sie zogen einfach vorbei und ich mühte mich nicht, sie festzuhalten.

'Oma Renate ist tot.'
Dieser Satz hallte noch immer durch meinen Kopf, schien keinen Ausgang zu finden.
Und ich konnte ihn nicht realisieren.
Meine Oma, die mich immer von der Grundschule abgeholt, mir immer mein Wunschessen gekocht hatte und so unzählige Male mit mir im Tierpark war. Die einfach von Anfang an ein fester, unfehlbarer Bestandteil meines Lebens war. Einfach weg. Tot. Tot.
Und wann hatte ich sie bitte das letzte Mal besucht? Es musste schon Monate her sein. Schuldgefühle legten sich wie schwere Steine auf mein Herz und schienen mir die Luft zum Atmen zu nehmen.
Halt suchend klammerte ich mich an der Arbeitsplatte hinter mir fest. Das Luftholen wurde immer schwerer. Es schien mich zu zerreißen.
Heiße, salzige Tränen liefen mir über die Wangen, nahmen mir wie ein Schleier die Sicht. Wie aus der Ferne hörte ich mich aufschluchzen.
Ein brennendes Gefühl machte sich in meinem Hals breit und mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
Es fühlte sich an, als wäre ich drei Meter unter der Wasseroberfläche und würde verzweifelt versuchen, Sauerstoff einzuatmen, doch konnte keinen erreichen.
Als würde ich in meinen Schuldgefühlen ertrinken.
Der Gedanke daran, dass Oma Renate nicht mehr da war und ich schon so lange nicht mehr die Chance genutzt hatte, sie zu besuchen, war erdrückend.
Es fühlte sich einfach nur schrecklich an.

Wenige Minuten später saß ich am Küchentisch und starrte auf einen unbestimmten Punkt an der Wand.
Ich weinte nicht mehr. Ich schluchzte nicht mehr.
Nur ein wummernder, dumpf pochender Schmerz in meinem Kopf blieb zurück. Und große, tiefsitzende Trauer, die mich von innen zu zerfressen schien.
Selbst das unangenehme Stechen an meinem rechten Fuß ignorierte ich einfach. Es war so unwichtig. So nebensächlich. So egal.
Mir war alles egal.
Was war es nur im Vergleich zum Tod?

Ich griff nach meinem Handy; die Uhrzeit sagte mir, dass die Frühschicht bald begann. Ich gleich losgehen musste.

Mein Chat mit Laura war noch offen.
Mit zitternden Fingern tippte ich schließlich eine Antwort.

»Nein.«

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Macht noch etwas aus dem Tag <3

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt