(71) Lebhaft [2/2]

2.2K 79 16
                                    

Noch immer schrie ich.
Noch immer lag ich auf dem Gras hinter der Leitplanke und sah zu, wie alle zu Phil rannten.
Sie waren nur noch gelbe und blaue Flecken, die vor meinem verschwommenen Blick zu einer furchterregenden Masse verschmolzen.
Diese Masse beugte sich über Phil, sank in die Knie und schluchzte auf.
Das Schluchzen drang wie ein Messer in mich, welches meine Lungen durchstach und mir die Luft raubte. Ein Messer, welches auf mein Herz das Wort "Verräter" ritzte. Es fühlte sich an, als würde Blut aus eben diesen Schnitten über mich laufen und mich als Mörder kennzeichnen.
Phil war tot.
Ich war schuld.
Ich hatte ihn nicht gewarnt, ihn nicht gerettet.
Ich hatte ihn umgebracht. Phil war meinetwegen gestorben.
Es schmerzte.
Es schmerzte so sehr.
Dieser Druck auf dem Herz, den das Gewissen verursachte.

Und es war das erste Mal, dass ich verstand, was ich so lange nicht verstanden hatte: Warum man nach einem solchen Moment wegrannte.
Ich rappelte mich auf; keiner beachtete mich.
Ich drehte mich um und rannte einfach weg.
Durch das Gebüsch hinter der Autobahn davon.
Einfach weg.
Ich rannte.
Konnte nicht anders.
Hielt nicht mehr an.
Spürte nichts.
Merkte nicht die Brombeerranken, die meine Arme aufrissen.
Nahm nicht einmal wahr, wie ich über ein paar Steine stolperte und der Länge nach auf harten, steinigen Boden fiel.
Schluchzend lag ich auf der Erde.
Die Welt war gekippt.
Was normal begonnen hatte, war ein Albtraum geworden.
Ich war wortwörtlich am Boden angekommen.
Ich konnte nicht mehr klar denken.
Es war alles so unwirklich.
Meine Sicht verschwamm durch meine Tränen.
Mein Herz schien aus mir ausbrechen zu wollen.

Schmerz.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich noch immer auf dem steinigen Boden.
Regen prasselte auf mich ein und eine wolkige Nacht hatte den Tag abgelöst.
Stöhnend versuchte ich mich aufzurichten.
Striemen zogen sich über meine Arme, meine Hose war stellenweise zerrissen, meine Haut kalt und nass.
Hinter meinen Schläfen pochte es, mein Kiefer schmerzte und mein Brustkorb stach.
Panik flutete mich, als ich realisierte, wo ich war. An einem ungeschützten Ort in purer Dunkelheit.
Schnell stand ich auf, spürte mein Herz rasend schnell in mir schlagen. Scheiße.
Angst stieg wie kaltes Wasser in meinem Hals hoch und schien mich von innen zu ertränken.
Wieder schossen Tränen in meine Augen und ich rannte einfach los.
Ich sah nicht, wo ich war, stürzte unzählige Male. Fühlte mich wie in einem schlechten Film gefangen.
Ich wusste nicht, was um mich war.
Hörte Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte.
Schrie in Panik, fühlte mich gefangen.
Hatte Angst um mein Leben.
Sah keinen Ausweg.

Äste schlugen mir ins Gesicht, als ich durch einen Wald rannte.
Ich war irre.
Ich rannte und rannte und traute mich nicht, anzuhalten.
Ich rannte und stürzte.
Floh vor allem.
Irgendwann rannte ich an einer Autobahn entlang; Autos schossen an mir vorbei.
Ich rannte und stürzte.

"Jetzt bleiben Sie doch mal stehen!", rief eine Stimme scharf, die zugleich vertraut und fremd war.
Zwei Arme packten mich grob und drückten mich zu Boden.
Ich zappelte, versuchte zu entkommen.
Der Griff verstärkte sich.
Ich fühlte mich gefangen und ertrank in meiner eigenen Schuld.
Und während ich lag und nicht mehr atmen konnte, da keine Luft mehr für mich übrig war, blickte ich hoch.
Ich sah der Person über mir ins Gesicht.
Es war Hannah.
Ihr Gesicht war seltsam dunkel, sie erkannte mich nicht.
Sie sah mich an und erkannte mich nicht.
Wir waren einmal Freunde gewesen.
Jetzt waren wir Fremde.
Sie erkannte mich nicht.
Und Phil war tot.
Ich wollte weg von all dem.
Sterben.
Ich wollte sterben.
Ich starb.

Keuchend fuhr ich hoch und spürte die Hitze in meinem Gesicht.
Mein Herz schlug rasend und unregelmäßig. Mein Shirt klebte an mir und mein Atem war schnell und unkontrolliert.
Ich sah meine Arme an. In der Dunkelheit konnte ich ausmachen, dass sie völlig normal und unversehrt waren.
Es war alles völlig normal.
Mir war nichts passiert.
Ich lag einfach nur im Ruheraum der Wache. Mehr nicht.
Und es war nur ein Traum.
Ein furchtbarer Traum.
Ich fuhr mir mit zitternden Händen über das Gesicht und versuchte, Realität von Traum zu trennen.

Die Tür zum Raum öffnete sich plötzlich und ich rutschte instinktiv ein Stück nach hinten.
"Hey, ich wollte nur mal fragen, ob du auch einen Kaffee haben willst", sagte Phil, "wir haben zwar nur diesen billigen, aber der ist ja immer noch- Sag mal, ist alles okay bei dir?" Sein Tonfall rutschte von beiläufig in tief besorgt ab.
Phil machte das Licht an und musterte mich kritisch.
Ich starrte ihn unverwandt an.
Dort stand Phil. Lebendig. Völlig unversehrt. Ganz normal.
Mit wackeligen Beinen stand ich auf und rannte auf ihn zu.
Bevor er irgendwie reagieren konnte, hatte ich ihn fest in meine Arme geschlossen.
Ich spürte sein Herz schlagen und fühlte seine warmen Arme, die sich beruhigend um mich legten.
Ich lächelte leicht.
Es war nur ein Albtraum gewesen.

Alles war gut.

------------

Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt