(86) Goldmarie [2/6]

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„Und du bist dir sicher, dass du jetzt noch arbeiten gehen willst?" Paul sah mich fragend an und aus seiner Mimik war leicht abzulesen, dass er von meinem Vorhaben eher weniger begeistert war.
„Ja", sagte ich entschieden und meinte es auch so. Es war ein unheimlicher Schock an einem frühen Morgen gewesen, während ich allein und auf mich gestellt war. Aber jetzt, wo ich in einem warmen Auto saß, Menschen um mich hatte und die Dämmerung bereits angebrochen war, fühlte ich mich wieder gestärkt genug.
„Dann kann ich dich nicht abhalten." Paul ließ seinen Stift klicken und stieg aus. Auch ich öffnete die Beifahrertür wieder und nahm meine Handtasche.
Paul war unterdessen um den Wagen gelaufen und stand nun neben mir, sein Funkgerät in der Hand.
„Dann einen ruhigen Dienst dir", sagte er mit einem ernsten Nicken.
„Danke, dir auch", erwiderte ich.
Paul verschwand nun ebenfalls in meinem Wohnhaus und mit einem letzten Blick zurück machte ich mich schließlich auf den Weg.

„Ach, auch mal da."
Dustin lag allein auf einer Couch und balancierte seinen Pager auf seiner Stirn. Dann sah er zu mir und setzte sich auf. Er sah sehr müde aus, aber es funkelte auch Belustigung in seinen Augen.
„Schau mal, Jacky." Er nahm mich an den Schultern und führte mich zum Fenster. Dann deutete er auf den Horizont. „Das da ist die Sonne. Die will ich eigentlich nicht sehen, wenn ich Nachtdienst habe."
Das brachte mich zum Grinsen und ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Sorry, alter Mann", sagte ich, „du hast was gut bei mir."
Dustin verbeugte sich und drückte mir dann den Pager in die Hand.
„Viel Spaß heute", verabschiedete er sich und lief Richtung Tür.
„Jaa, schlaf du dann schön", rief ich ihm noch hinterher, bevor die Tür hinter ihm zuschlug und ich alleine im Aufenthaltsraum war.
Das Grinsen tröpfelte aus meinem Gesicht. Dieser Moment war gerade so unbeschwert und ablenkend gewesen. Ich hatte mich nicht erklären müssen und alles, was bereits heute geschehen war, war einen Moment lang einfach irrelevant.
Jetzt holte es mich wieder ein.

Langsam lief ich in die Küche und stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine. Während sie dröhnend den heißen Kaffee laufen ließ, starrte ich aus dem Fenster.
Gerade als ich die Tasse auf den Tisch stellte und mich setzen wollte, kam Karin rein.
„Na hey, da bist du ja", begrüßte sie mich, „Dustin hatte sich schon über seine Dienstverlängerung gefreut."
„Jaa, ich habe mich schon ausdrücklich bei ihm entschuldigt", sagte ich mit einem angedeuteten Grinsen und legte meinen Kopf leicht schief.
Die Tür öffnete sich erneut und dieses Mal traten Phil und Franco ein, die gerade von einem Einsatz zurückkamen.
„Hey Jacky, was war los? Verschlafen?", sagte Franco fröhlich und ließ sich neben mir auf einen Stuhl fallen.
„Jaa, so ähnlich. Ich hatte noch etwas mit meiner Nachbarin zu tun." Ich lächelte und fragte mich im selben Moment, warum ich nicht einfach die Wahrheit gesagt hatte.
Wahrscheinlich, weil ich es nicht wollte.
Weil ich vergessen wollte, was heute früh geschehen war.
Weil ich jetzt nicht darüber reden und einfach so wirken wollte, als wäre heute nichts, rein gar nichts außergewöhnliches passiert.
Und was hätte ich denn sagen sollen?
Hey Franco, ich habe heute Morgen ein Verbrechen aufgedeckt und musste die Polizei rufen, weil meine Nachbarin verletzt, entführt oder sogar tot ist?
Bestimmt nicht.
Franco fragte nicht weiter nach und begann von einem kürzlichen Einsatz zu erzählen, wo ihn die Familie gleich noch auf ein Glas Bier da behalten wollte.

Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu und mein Fokus suchte sich sehr schnell ein wesentlich interessanteres Ziel: Marie Grün. Wer war sie? Wo war sie? Was war geschehen? Und viel wichtiger: Wie ging es ihr?
Das schrille Geräusch unserer Pager riss mich wie eine Eisdusche in die Realität zurück. Ich stand sofort auf und folgte den anderen dreien in die Fahrzeughalle. Jetzt, in meiner Position, konnte ich Marie Grün sowieso keine Hilfe sein. Ich war jetzt Sanitäterin und meine wackeligen Gedankenkonstrukte halfen weder ihr noch mir.
Von meinem Kaffee hatte ich nichts getrunken.

„Da sind wir." Karin schaltete den Motor ab und ich sah durch die Frontscheibe nach draußen auf die Netto-Filiale.
Die kurze Fahrt hatten wir relativ schweigsam verbracht und unsere einzige Meldung für den Einsatz lautete 'bewusstlose Person', gemeldet von einer Verkäuferin.
Ich setzte mir unseren Rucksack auf und wir folgten Phil und Franco in den Supermarkt.
Unsere Person war unschwer zu finden, denn es hatte sich schon ein ganzer Auflauf an Menschen um sie gesammelt.
„Rettungsdienst, wir müssen einmal durch." Franco hatte das Kommando übernommen und bahnte sich jetzt einen Weg durch die Menge.
„Bitte einmal zur Seite gehen, wir brauchen jetzt Platz zum arbeiten", sagte nun auch Phil und die Menschenmasse teilte sich allmählich.

Eine Verkäuferin hockte neben einer älteren Dame auf dem Boden, die in eine laienhafte stabile Seitenlage gebracht wurde.
Als sie uns sah, stand sie erleichtert auf und Franco nahm sie zur Seite, um ihr ein paar Fragen zu stellen.
Phil kniete sich zum Kopf unserer Patientin und Karin zog einen Fingerclip aus ihrer Jackentasche, während ich den Rucksack öffnete.

Ich war gerade dabei, Phil etwas zu reichen, als plötzlich etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Etwas weiter im Gang stand eine Frau mit einem gelben Mantel.
Blondes Haar lugte unter einer hellen Mütze hervor.

Aber... wie war das möglich?

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Ich wünsche euch ein frohes, gesundes und erfolgreiches neues Jahr!💛🎊
Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt