(80) Neun von Zehn [3/4]

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„Ihnen fehlt ein Stück Ihres Fingers“, erklärte mir der Arzt so sachlich, als spräche er mit mir über die Qualität eines Waschpulvers.
Beinahe war es lachhaft.
„Ach was“, fauchte ich. Glaubte er etwa, ich hätte das nicht gemerkt?
Trotzdem war sein Satz so schmerzhaft, dass er sich wie eine Glasscherbe unaufhaltsam in mein Herz bohrte. Mir fehlte ein Finger.
Franco war ungewöhnlich still, als er eine Kompresse auf die Wunde drückte und vorsichtig einen Verband darum befestigte.
Herr Doktor Martins schien unterdessen selbst zu merken, dass seine Anwesenheit kaum positive Aspekte mit sich zog und entfernte sich eigenständig in Richtung der anderen Einsatzkräfte.
Mir war inzwischen einfach nur noch nach Heulen zumute.
Franco, der meine Hand mittlerweile erstversorgt hatte, schob sich in mein Blickfeld.
„Komm, lass uns erstmal zum RTW gehen. Kannst du aufstehen?“ Sorge schwang in seiner Stimme mit.
Ich antwortete mit einer Mischung aus Nicken und Schulterzucken und richtete mich langsam auf. Mein gesamter Körper wirkte auf einmal so unendlich schwer und eine bleierne Müdigkeit schien sich über mich zu legen.
Darauf bedacht, immer einen Fuß vor den anderen zu setzen, lief ich langsam in Richtung des Rettungswagens. Franco verfolgte dabei unablässig jede meiner Bewegungen und schien allzeit bereit dazu, mich festzuhalten.

Zwei Meter vor dem Rettungswagen hielt ich inne.
Elina lag auf dem Asphalt. Ihr dunkles Kleid stand in einem starken Kontrast zu den neongelben Dienstjacken, die sie umgaben. Einen Augenblick lang vergaß ich, in welcher Situation ich mich befand.
Ich stolperte zu ihr, kniete mich neben sie und stieß damit ein Stück weit Florian aus dem Weg,
„Jacky-“ Flo schien nicht überrascht, mich hier zu sehen. „Jacky, du bist selber verletzt-“
Doch mein Blick lag nur auf Elina. Sie sah aus kleinen Augen zu mir auf und deutete ein schwaches Lächeln an. Ihr Gesicht war fast so weiß wie der Verband um ihren Kopf.
Ich griff nach ihrer Hand.
„Wie geht’s dir?“ Meine Stimme war fast nur ein Flüstern.
„Es- es geht schon... Könnte besser sein, schätze ich.“ Sie versuchte es mit einem schiefen Grinsen. Es war ein kläglicher Versuch.
„Jacky“, hörte ich Franco hinter mir, „Komm. Sie ist in den besten Händen.“
Ich spürte seine Hand auf meiner Schulter. Auch Flo hatte sich mir zugewandt. Er nahm mich vorsichtig an den Armen und zog mich auf die Beine.
Die grellen Lichter um mich begannen zu flackern und die Stimmen der anderen verschwammen.
"Hey!" Der Griff um meine Oberarme verstärkte sich, als meine Beine unter mir einknickten.
„Verdammt nochmal.“ Gedämpft nahm ich Francos Stimme neben mir wahr, der mich jetzt mehr trug, als dass ich selber stand.
Der Drang, einfach meine Augen zu schließen, wurde immer größer.
„Jacky?“
Ich war so endlos müde.
„Hey, Augen auf! Jacky!“
Eine schwebende, berauschend ruhige Schwerelosigkeit schien mich zu umfangen.
Einen Moment nahm ich noch verschwommene Stimmen und Farben um mich wahr.
Dann war es still.

„Einen wunderschönen guten Morgen“, sagte eine Stimme für meinen Geschmack viel zu laut und viel zu motiviert.
Ich blinzelte und wurde prompt von gleißend hellem Licht geblendet.
Was zum...?
Charlottes Gesicht erschien verkehrt herum über mir und ein Grinsen stahl sich auf ihre Gesichtszüge. Ah. Krankenhaus.
„Was ist passiert?“ Meine Stimme glich einer vertonten Raufasertapete.
„Naja.“ Charlotte setzte sich zu mir auf die Bettkante. „Du bist Franco und Flo nach diesem... nach dem Unfall in die Arme gefallen.“
Achja. Der Unfall. Plötzlich schienen alle Erinnerungen wie prasselnde Hagelkörner wieder auf mich einzuschlagen.
Das Auto. Der Aufprall. Meine Hand.
Elina.
Mit einem Mal saß ich senkrecht.
Und bereute es sofort wieder.
Mein Kopf brannte höllisch und ich kniff vor Schmerz meine Augen zusammen.
„Vorsicht“, mahnte Charlotte und drückte mich wieder in die Kissen.
„Wie geht es Elina?“, sagte ich, ohne auf sie einzugehen.
Charlotte lächelte. „Ihr geht es gut. Sie ist im Nebenzimmer und lässt ausrichten, dass du dich mit Aufwachen bitte beeilen mögest.“
Ich verdrehte die Augen. Diese Pflaume.

„Aber jetzt zu dir“, sagte Charlotte eine ganze Spur ernster und zog ein Klemmbrett zu sich. „Du hast am Unfallort ziemlich viel Blut verloren. Neben der Sache mit deinem Finger hast du auch noch eine Prellung an deinem Ellbogen, linken Knie und Oberschenkel, eine kleine Platzwunde am Hinterkopf und einige Schürfwunden. Du bist ehrlich gesagt ziemlich glimpflich davon gekommen.“
Die Sache mit meinem Finger.
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
In Charlottes Blick spiegelten sich Mitleid und Sorge.
„Hast du ein Glas Wasser?“, versuchte ich vom Thema abzulenken.
„'türlich.“ Charlotte stand auf und kam kurz darauf mit einem ganzen Frühstückstablett wieder.
„Danke“, sagte ich leise, als sie es neben mir abstellte.
Wenig später war ich allein.
Ich trank etwas, ließ das Essen jedoch außen vor.
Ich hatte eh keinen Appetit. Die Realität hatte mich wieder eingeholt und schien alles andere zu verdrängen.
Am liebsten wollte ich einfach wieder in die Dunkelheit versinken, aus der ich gerade aufgewacht war.

Die Tür öffnete sich und instinktiv schloss ich meine Augen. Eine Person lief in meine Richtung und stellte etwas neben mir ab. Kurz darauf schloss sich die Tür wieder und die Schritte entfernten sich im Gang. Ich sah neben mich. Schemenhaft erkannte ich eine helle Vase mit einem bunten Blumenstrauß darin. Daran gelehnt eine Notiz, dass der Strauß ein Gruß meiner Wache war.
Mein Blick löste sich von den Blumen und verweilte einen Moment auf dem großen, weißen Verband an meiner Hand.
Dann begann ich bitterlich zu weinen.
Hatte ich mich nicht noch am gestrigen Nachmittag über den Nagellack an jenem Finger geärgert? Dass er verwischt war?
Was würde ich nur dafür tun, überhaupt dort je wieder welchen aufzutragen.
Früher, wenn man einen Fehler in der Schule gemacht hatte, versuchte man es eben am nächsten Tag erneut. Es war egal, nebensächlich, ohne Konsequenzen. Im Leben war es völlig anders.
Es gab keine zweite Chance, wurde mir schmerzhaft klar.
Was selbstverständlich war, konnte im nächsten Moment weg sein.
Musste denn immer erst etwas passieren, dass ich es begreifen kann?

Kühle Tränen tropften auf das weiße, fremde Krankenhauskissen.
Eine kalte Woge aus grauer Reue und schwarzer Wut schien mich zu umhüllen. Neun Sekunden war ich aufmerksam. Neun von zehn. Zu wenig.
Meine eigene Schuld schien mich innerlich aufzufressen und machte mir unweigerlich klar, dass das Geschehene irreversibel ist.

Ich hätte es verhindern können.

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Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt