Ana
In diesem Moment, in dem Raphael und ich draußen auf seiner Terrasse saßen, begann nun die Zeit zu rennen.
Als er mit seiner Handfläche meine Wange streichelte und mich dabei mit seinen warmen Augen anblickte, merkte ich, wie nah wir uns immer wieder kamen.
Damit meinte ich nicht nur den körperlichen Kontakt, sondern auch auf emotionaler Ebene. Unsere Gespräche, unser Blickkontakt, die Art und Weise, wie wir miteinander umgingen. Es fühlte sich für mich so an, als würde ich ihn schon länger kennen als ein paar Wochen. Als hätte ich bereits, mindestens ansatzweise, herausgefunden wie er tickte. Welche Art Mensch er war.
Er wusste auch, wie er mit mir umzugehen hatte. Er war aufmerksam und wirklich bedacht darauf, alles Infos, die ich ihm gab, sei es durch Gespräche oder mein Gesichtsausdruck, aufzusammeln. Als würde er die Teile wie ein Puzzle zusammenfügen wollen. Ich ertappte ihn hin und wieder dabei, wie er mich musterte und studierte. Er wollte auch wissen, wie ich tickte.
"Es ist nichts Großes." versuchte ich die Stimmung zu lockern.
Ich wollte nicht wie ein kleines Kind wirken. Beschämt und verletzt von den Taten meines Exfreundes, welche nun bereits über einem Jahr zurücklagen.
Also erzählte ich Raphael von meiner Vergangenheit. Mit starkem Gesichtsausdruck und überlegten Worten.
Ich erzählte ihm davon, wie wir uns kennengelernt haben - durch gemeinsame Freunde auf einem Festival. Das war nun schon fast 5 Jahre her. Ich erzählte ihm, wie wir uns verliebten und wie sehr wir uns gegenseitig von Grund auf schätzten und uns für voll nahmen. Ich erzählte ihm von unseren Plänen. Kai und ich hatten die gleichen Pläne. Eine gemeinsame Zukunft - das WAR unser Plan.
Doch dann wurde alles anders.
Ich erzählte ihm von seinem plötzlich gezwungenem Jobwechsel, weil sein voriger Arbeitgeber Konkurs angemeldet war. In seinem neuen Job hatte er Probleme mit der Eingliederung. Es gab bereits Grüppchen und Cliquen. Er tat sich schwer beim Kontakteknüpfen.
Ich erzählte ihm, dass er sich nach einigen Monaten plötzlich begann, sich mit seinen Arbeitskollegen auch privat zu treffen. Ich freute mich für ihn. Ich war froh, dass er Anschluss gefunden hatte.
Anfangs waren es nur ein bis maximal zwei Tage der Woche, dann drei, dann vier. Am Ende war er ständig unterwegs. Immer mit seinen "Kumpels". Er kam so gut wie immer sturzbetrunken nach Hause. Nach einer Zeit roch ich keinen Alkohol mehr, doch er war trotzdem in einer anderen Welt - so wusste ich, dass er auch Drogen nahm. Seine Freunde genauso.
Er begann immer aggressiver und wütender zu werden. Er randalierte zuhause, schmiss mit Geschirr und packte mich, dass ich oft tagelang meine blauen Flecken verstecken musste. Er hatte mich aber nie geschlagen. Natürlich wollte ich ihn dafür nicht loben. Das sollte Selbstverständlichkeit sein.
Zu diesem Zeitpunkt versuchte ich wirklich alles was in meiner Macht stand zu tun, um ihn, um UNS zu retten. Ich sprach mit meinen Eltern, ich sprach mit seinen Eltern. Ich versuchte mich auf Dinge einzulassen, die er schon immer gut gefunden hatte, ich aber nicht. Ich habe versucht, ihn irgendwie aus dieser Gruppe rauszubekommen, bin aber kläglich gescheitert.
Das letzte Mal als ich ihn gesehen habe, das war der Tag, an dem ich unsere Beziehung ein für alle Mal beendet habe, kam ich von einem stressigen Arbeitstag nach Hause. Ich weiß noch, dass ich frisch mit meinem Studium fertiggeworden bin und gerade für "Quiops" zu arbeiten begonnen habe.
Ich kam früher als geplant zurück, doch Kai war komischerweise schon zuhause. Schon im Eingangsbereich sah ich zahlreiche Kleidungsstücke herumliegen. Männliche und weibliche - nichts davon gehörte mir.
Im Schlafzimmer habe ich meinen geliebten Freund sturzbetrunken mit unserer Nachbarin erwischt. Eine junge Russin, die gerade neu in unseren Komplex eingezogen war.
Ich weiß bis heute nicht, ob das etwas Einmaliges war oder ob das regelmäßig vorkam. Zu diesem Zeitpunkt war mir das egal. Ich wusste einfach, dass unsere Beziehung nicht mehr zu retten war.
Nach seinem Vertrauensbruch war ich auch nicht mehr bereit, mehr Kraft und Energie in diese Beziehung zu stecken. Also trennte ich mich von ihm.
Ich erzählte Raphael auch, dass der Grund, weshalb ich Max nicht mehr sehen möchte, darin lag, dass er gewisse Ähnlichkeiten mit Kai hatte und dass ich mich auf sowas nicht mehr einlassen möchte.
Als ich mit der Geschichte zu Ende war, blickte ich zur Ablenkung hinab auf meine Finger. Die Stimmung war ziemlich gedämpft.
„Ich habe Kai seit dem her nicht mehr gesehen. Und das ist auch gut so." gab ich von mir und war von meiner Meinung überzeugt.
Über die gesamte Zeit hinweg, versuchte ich seinen Augenkontakt zu halten. Es war okay für mich, dass er diesen Teil meiner Vergangenheit nun kannte. Was ich nicht wollte, war bemitleidet zu werden.
Es ist zwar viel scheiße passiert und es hat mich eine Zeit lang kaputt gemacht, aber ich bin kein Kind. Ich habe gelernt damit umzugehen. Das Leben geht weiter.
Raphael hatte mir die gesamte Zeit aufmerksam zugehört. An gewissen Stellen nickte er oder machte leichte Handbewegung, als Zeichen, dass er verstanden hat und an meinen Lippen hing. Er musterte mein Gesicht während ich sprach, doch ich blieb sachlich und neutral. Kein Grund sentimental zu werden.
„Ist das etwas, womit du heute noch zu kämpfen hast? Nähe zu anderen zuzulassen und zu vertrauen?" fragte Raphael mich plötzlich.
Wenn ich die Fassade bis jetzt aufrechterhalten konnte, dann begann sie jetzt zu bröckeln.
Habe ich Probleme Beziehungen zu neuen Menschen aufzubauen? Ihnen zu vertrauen? Verhalte ich mich noch genauso wie vor über 5 Jahren, als alles noch in Ordnung war?
Oder bin ich in Sachen Beziehung eine andere Person geworden?
„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht." sprach ich. Raphaels wachsame Augen auf mir, als ich weitersprach.
„Ich... Ich bin seitdem her nie mehr so weit gekommen." gab ich ehrlich zu. Das stimmte, seit Kai gab es keinen Mann mehr in meinem Leben, der dauerhaft blieb. Den ich dauerhaft dahaben wollte. Ich habe aber auch nie wirklich zu 100 % danach gesucht. Wenn's passiert, dann passiert's.
Raphaels Augen trafen meine. Sie strahlten so eine Wärme aus, dass mir, obwohl ein leichter Wind die Blätter der Büsche zum Rascheln brachte, warm wurde.
Er war so lieb, so aufmerksam.
Obwohl er nicht viel machte oder sagte, aber die Art und Weise, wie er sich verhielt, seien es auch nur Kleinigkeiten, lassen mich wissen, dass er da war. Er vermittelte mir Sicherheit.
„Aber ja." setzte ich an und wollte die Stimmung wieder heben. „Ich schaue nach vorne. Ein Buch liest man ja auch nur weiter und nicht rückwärts."
Verwundert über meine Positivität blickte er mich an, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Das zweite Lächeln!
Da konnte ich nicht anders und lächelte bis über beide Ohren zurück.
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Mein verdammtes Herz
RomanceIch ließ mich nach vorne und stützte meinen Ellenbogen am Tisch ab, meinen Kopf auf meiner Hand aufliegend. Raphael beobachtete mich. "Schwarz steht dir." gab ich ehrlich zu und sah ihm dabei ins Gesicht. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen...