Chapter 73

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Raphael

Die Person, am anderen Ende der Leitung, wusste was los war. Von ihr hatte Ana die Info erhalten.

„Hallo?" sprach ich. Keine Ahnung wer dran war, Ana hatte die Nummer nicht eingespeichert.

„Guten Abend, mit wem spreche ich?" fragt eine männliche Stimme. Sie war mir nicht bekannt.

„Raphael Schwarz. Ana ist meine Freundin. Was ist passiert?" drängte ich die Person fast schon mit unfreundlichem Ton.

Scheiß auf Höflichkeiten. Scheiß drauf, wer am Hörer war. Was war passiert, dass Ana so zusammenbrach?

„Herr Schwarz, mein Name ist Dr. Alfred Tomsits, ich bin Arzt im Allgemeinen medizinisches Krankenhaus in Sterlingen." sprach der Fremde.

Sterlingen? Ana's Eltern.

Ich blickte kurz zu ihr. Mittlerweile waren ihre Augen angeschwollen. Ihr Weinen ließ nicht nach.

Es stach in meiner Brust sie so zu sehen.

„Herr und Frau Weiss waren heute Nachmittag in einem tragischen Autounfall verwickelt. Durch das Unwetter dürften sie von der Straße abgekommen sein. Herr Weiss wurde notoperiert, er liegt jedoch momentan im Koma. Er ist nicht ansprechbar. Für Frau Weiss konnten wir leider nichts mehr tun."

...

Dieser Schicksalsschlag traf Ana wie ein Schlag ins Gesicht.

Wie auch nicht?

Die Frau, die sie ihr Leben lang begleitete und sie immer und überall in der ersten Reihe unterstützte, war nun weg. Und sie kommt nicht mehr wieder.

Der Mann, der nur das Beste für seine einzige Tochter wollte und alles für sie gegeben hätte, lag nun im Krankenhaus im Koma. Keiner wusste, ob er wieder aufwachen würde. Keiner wusste, ob er wegen seiner starken inneren Verletzungen die nächsten Wochen überhaupt überleben würde.

Ich kannte die beiden nicht so lange und nicht so gut wie Ana, doch auch mir versetzte es einen krassen Stich diese Neuigkeiten zu hören. Zum einen wegen der beiden, zum anderen wegen Ana.

Ana war am Boden zerstört.

Als ich mit Dr. Tomsits alles fertig besprochen hatte, blieb ich die ganze Zeit bei ihr. Wir saßen fast die halbe Nacht auf dem Boden unseres Arbeitszimmers. Sie konnte nicht aufstehen. Sie wollte nicht.

Ich versuchte sie mit Worten und zarten Berührungen zu beruhigen, doch es gab keine Worte, die die plötzliche Leere und den Schmerz in ihr hätte heilen können.

Kein Wort der Welt konnte ihre Eltern zurückbringen. Ich konnte einfach nur für sie da sein. Ich konnte ihr nur zeigen, dass ich an ihrer Seite war und sie diese schreckliche Zeit nicht allein durchstehen musste.

Ihre herzzerreißenden Schreie und das nach Luft schnappende Weinen klang irgendwann aus. Ich wusste nicht, wie lange ich neben ihr saß und sie an mich drückte. Ich hatte das Gefühl sie zerfiel.

Mein Herz schmerzte.

Nach einer Weile wurde sie ruhiger. Ihr Weinen wurde zu einem Schluchzen, bis sie irgendwann, erschöpft und ohne Kraft, in meinen Armen eingeschlafen war.

...

Die nächsten Tage waren hart.

Sobald Ana wach war, ging alles nochmal von vorne los. Es war als durchlebte sie letzte Nacht erneut. Ich verließ dabei nie ihre Seite.

Als sie den ersten Schock verarbeitet hatte, wollte sie zu ihrem Vater ins Krankenhaus. Sie konnte es nicht ausstehen zu wissen, dass er krank und allein in einem Zimmer lag.

Also fuhr ich mit ihr.

Sobald Ana das erste Mal ihren Vater sah, mit verwundetem Gesicht und etlichen Schläuchen an seinem Körper befestigt, brach sie erneut zusammen.

Ich wollte sie eigentlich gar nicht herbringen. Noch nicht nach so kurzer Zeit.

Als sie wieder unkontrolliert zu weinen begann, wollte ich sie gleich wieder raus bringen. Doch sie ließ mich nicht.

Sie rannte auf ihn zu und nahm seine Hand in ihre. Laut schluchzend und weinend sprach sie zu ihm. Mein Herz brach sie so zu sehen.

Ihre Trauer blieb natürlich auch nicht den anwesenden Krankenschwestern und Ärzten verborgen. Sie rieten ihr für's erste mit einer Psychologin im Haus zu sprechen, die den Angehörigen bei der ersten Trauerbewältigung halfen.

Während sie weg war, ging ich einen Stock tiefer - in die Pathologie. Jemand musste Ana's Mutter identifizieren.

Letzte Nacht klärte mich Dr. Tomsits darüber auf. Es kam nicht in Frage, dass Ana das machen musste. Also tat ich es für sie.

Die Tage darauf organisierten wir das Begräbnis. Ana wurde aufgrund der tragischen Umstände die nächste Woche freigestellt. Ich als Betriebsinhaber konnte keine ganze Woche weg sein, doch ich schaffte es an drei von fünf Tagen.

Wenn ich nicht da war, bat ich Jasmin bei Ana zu sein. Ich wollte nicht, dass sie allein war.

Jasmin unterstützte uns und vor allem Ana bei allem, was anstand. Sie war genauso mitgenommen von den traurigen Ereignissen. Sie kannte Ana's Eltern und ihre Freundin so leiden zu sehen, nahm sie sehr mit.

Doch auch sie wollte für Ana stark sein, genauso wie alle anderen.

Der Begräbnistag ihrer Mutter war besonders hart für Ana.

Wie verabschiedet man sich von einer Person, die man ein Leben lang kannte?

Viele Leute waren gekommen, doch ich kannte die wenigsten. Jasmin, Matt und meine Eltern standen in unserer Nähe. Ana hatte keine große Familie. Es gab keine Großeltern mehr und ihr Vater war Einzelkind. Nur ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, war hier, doch sie hatten schon jahrelang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt.

Ana wollte stark sein. Sie wollte nicht vor all den Leuten zu weinen beginnen, so wie sie es zuhause in den eigenen vier Wänden tat.

Die paar Therapiestunden im Krankenhaus, die sie die Woche lang regelmäßig besuchte, halfen ihr wirklich. Sie war zwar nicht geheilt, doch sie konnte leichter mit der Situation umgehen.

Als wir den Friedhof gemeinsam verließen, hielt sie meinen Arm so fest, als ob sie Angst hätte, ich könnte, wie ihre Eltern, plötzlich verschwinden.

Sie hatte nun niemanden mehr aus ihrer Familie.

Ihr Vater lag zwar noch im Koma, doch die Ärzte konnten nicht sagen, ob er wieder aufwachen würde, geschweige denn, ob er jemals wieder so sein würde wie zuvor.

Mit allem, was ich habe und alles, was ich ihr geben kann, werde ich ihr geben.

Wir werden das gemeinsam durchstehen. Ich helfe ihr dabei, ihr Lächeln wieder zu finden.


Mein verdammtes HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt