62. Lüge

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Damino

Die Krallen einer Krähe bohren sich in meinen Unterarm. Das schmerzt zwar, aber dafür bin ich wenigstens nicht mehr alleine. Ich füttere die Krähe sowie jede Woche, nachdem ich es aufgepäppelt habe und den gebrochenen Flügel geheilt habe. Mir ist nicht bekannt, wie diese Verletzung zustande kam, aber ich vermute, dass das Tier von einem Nest runtergefallen ist. Ich stehe unter einer großen Eiche, die ihre Blätter schon abgegeben hat. Mir ist kalt, mein zerrissenes Oberteil hält nicht warm. "Schlammjunge! Ist das einer deiner komischen Vögel?", fragt mich ein kleinerer Junge. Er ist sicherlich nicht älter als sechs Jahre alt und nennt mich schon bei dem integrierten Namen, die die bösen Jungs für mich erfunden haben. Die haben mich wahrscheinlich so bei ihm vorgestellt. Ich kenne ihn nicht, sein Gesicht ist mir neu. Wahrscheinlich ein neuer Zuwachs im Waisenhaus.

"Du bist neu", stelle ich fest und lasse die Krähe frei, indem ich meinen Arm nach oben hebe. Sie fliegt davon und ich fühle mich wieder ungesehen und unbrauchbar. "Ich bin gestern angekommen", erzählt er mir ruhig. Meinen Drang ihn umarmen zu wollen unterdrücke ich, da es beim letzten ähnlichen Fall mit einer Schlägerei endete. Der Junge von dem Vorfall hatte sich so sehr vor meiner Hautfarbe geekelt, dass er es als Beleidigung sah, als ich ihn umarmte. Er meinte dass ich ungewaschen aussehe und stinke. Seitdem trage ich einen neuen Namen im Haus. Manchmal nennen mich auch die Mädchen hier so, wenn ich ihnen keine Aufmerksamkeit schenke, um mich zu ärgern. "Meine Eltern gaben mich gestern hier ab", erzählt er weiter und ich versteife mich. "Wieso?", frage ich ehrlich interessiert. Die meisten verwaisten Kinder werden hierhergebracht, wenn ihre Eltern versterben oder alleine in einer Gasse aufgefunden werden. Er lächelt, ein gestelltes Lächeln. "Sie meinten, sie sind keine guten Eltern, hier geht es mir besser", erklärt er monoton. Sein Lächeln liegt ihm immer noch verräterisch auf den Lippen. Er lächelt seinen Schmerz hinweg. Sie hätten ihn auch ins Jugendamt bringen können, aber wahrscheinlich hatten sie ihre Gründe. Kriminelle Gründe. "Ist Schlammjunge dein richtiger Name?", fragt er mich nun, als es kurz still war. Ich verschränke meine Finger ineinander, unsicher wie ich darauf antworten soll. "Damino", sage ich knapp. Er nickte und ging wieder ins Haus. Das war das letzte Mal, dass ich diesen Jungen sah. Seitdem Tag war er verschwunden, als hätte ich ihn nur in meiner Fantasie zusammengereimt. Er war der einzige, der aufrichtig lieb zu mir war.

Kühles Wasser rinnt meiner Brust hinab, immer noch schweratmend mit dem Arm an der Duschwand abgestützt. Diese Erinnerung hatte mich kalt erwischt. Ich erinnere mich gut an meine Kindheit im Waisenhaus. Kaltes mit Gemälde durchgezogenes Backsteinhaus, gefüllt mit vielen Betten mit überzogenen weißen Laken, die ich hasste und deshalb oft auf dem Boden schlief. Traurige Gesichter, trübes Essen und Angestellte, die ihren Beruf leblos verrichteten. Gott, wie ich diesen Ort verabscheute. Ich denke nicht gerne daran zurück, aber verdammt, wie gerne würde ich wissen, ob der Junge noch lebt. In guten Verhältnissen und mit guten Menschen. Möglicherweise würde mir eine Therapie gut tun. Ich meine, wenn ich meinen Abschluss fertig habe, alleine lebe und einen Beruf ausübe.

Ich spüle das Shampoo aus meinen Haaren und drehe den Wasserhahn zu. In ein paar Minuten findet die Nachhilfe statt. Ob es eine kluge Idee war sie angelogen zu haben? Sollte ich ihr doch beichten, dass sich meine Noten verbessert haben und das Mr. Ryland mich heute morgen gelobt hatte und ich keine Nachhilfe mehr benötige? Nein, sie würde mich dafür ohrfeigen. Oder sogar schlimmer. Mir die Haut vom Leib reißen oder so. Bei ihrem wütenden Gesicht, wird mir warm vor Vorfreude. Ich liebe es, wenn ihre Haut meinetwegen glüht. Das darf ich ihr ebenfalls niemals sagen, sie würde ausflippen.

Als ich mich abgetrocknet habe, ziehe ich mir einen Pulli über und eine bequeme Jogginghose. Dann mache ich mich auf dem Weg zum Automaten. Die Mars-Riegel sind leider ausverkauft, deshalb tippe ich nach der Nummer für die Snickers-Riegel. Die wird sie sicherlich auch mögen. nachdem ich gezahlt habe stecke ich mir den Riegel in meine Sporttasche, da ich bis eben beim Boxen war und gehe zurück.

𝑩𝒆𝒕𝒘𝒆𝒆𝒏 𝒚𝒐𝒖 𝒂𝒏𝒅 𝒎𝒆Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt