9. Geliebt oder gehasst

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Asteria

Gibt es eine Bezeichnung für gleichzeitig ineinander geratene Gefühle, wie aufsteigender Wut und ernsthaften Übelkeit? Es fühlt sich nämlich so an, als würde ich genau diese Empfindung stark verspüren, als ich Damino in den Raum treten sehe, worin sich außer mir und noch paar einzelne Schüler sonst niemand vor befindet. Die einzige Frage, die nun in meinem Kopf hin und her kreist, ist keine andere, als die, in der ich mich wundere, was er hier eigentlich zu suchen hat.

Seine Augen richten sich auf einmal in meine Richtung, als er sich umsieht und wahrscheinlich einen Platz heraussucht, doch bei mir dann kurz Halt macht. Sofort breche ich meine Blickrichtung zu ihm ab und sehe wieder auf meine vor mir liegende Stifte, die verstreut auf dem Notizheft abgelegt sind. Er soll aufhören mich zu verfolgen und mir den Schultag, der schon so anstrengend genug ist, zu vermiesen.

Er geht seine Schritte weiter und erst jetzt bemerke ich, wie kantig sein Gesicht von der Seite aussieht. Er hat seine Kapuze nicht auf, weshalb ich auch erst jetzt erkenne, wie ein kleiner Piercing an seiner Nasenseite platziert ist. Durch seinem dunklen Teint , was wahrscheinlich von seiner Herkunft kommt, funkelt dieser Piercing um so mehr heraus.

„Guten Morgen, ihr lernbegeisterten Menschen", ertönt plötzlich eine Stimme von vorn. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Lehrerpult, wo Mr. Ryland sich entspannt an den antiken Tisch lehnt. Er hebt den Blick leicht zu uns, da die Sitzreihen in diesem Raum höher angeordnet sind, ähnlich wie in einer Tribüne. So haben wir alle einen klaren Blick auf die Tafel. Dieses spezielle Layout gibt es nur in den Kursräumen des Internats.

Wir begrüßen ihn höflich mit einem knappen Nicken, wie es hier üblich ist. Der ältere Lehrer setzt sich, zieht seine Papiere und einen Ordner hervor und beginnt sie systematisch zu sortieren. Währenddessen kommen weitere Schüler hereingeschlichen, nehmen leise ihre Plätze ein und murmeln ebenfalls eine Begrüßung.

„Nehmt euch mal ein Beispiel an diejenigen, die rechtzeitig da sind", sagt Mr. Ryland streng, wobei sein Blick auf zwei Jungen fällt, die sich hastig in die hinteren Reihen setzen. Sie nicken nur stumm als Antwort, ohne den Mut, etwas zu entgegnen.

Ich nehme meinen schwarzen Tintenroller zur Hand und notiere das Datum. Konzentriert richte ich meine Gedanken auf den Lehrer und lasse mich von nichts anderem ablenken. Niemandem im Raum schenke ich einen weiteren Blick. Dennoch spüre ich das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Ich ignoriere es bewusst, ich habe zu lange auf diesen Kurs gewartet, um mir die Vorfreude von irgendwelchen Blicken oder Gerüchten nehmen zu lassen. Wahrscheinlich wundern sich einige, dass ich überhaupt Interesse an diesem Fach zeige.

„Wer von euch hat Lust, etwas über die menschliche Psychologie zu lernen?", fragt Mr. Ryland mit einem knappen Lächeln. Einige Schüler schmunzeln, andere nicken und manche, so wie ich, bleiben ruhig und aufmerksam. Innerlich freue ich mich riesig, endlich dabei zu sein. Doch die Anwesenheit eines bestimmten Neulings in diesem Kurs treibt mir die Galle hoch. Seitdem ich ihn das letzte Mal zur Rede gestellt habe, schaut er mich an, als sei ich die Neuankömmling und nicht er.

Am liebsten wäre es mir, er würde dorthin zurückgehen, woher er ursprünglich kommt. So jemand wie er passt einfach nicht in ein Internatssystem. Seine Art schreit förmlich nach Highschool-Chaos. Mal sehen, wie lange er es hier schafft, ohne gegen die Regeln zu verstoßen. Nicht, dass ich selbst jemals unschuldig war, aber ich habe es immer geschafft, unentdeckt zu bleiben. Etwas, das ich ihm nicht zutraue.

„Bevor wir loslegen, möchte ich euch besser kennenlernen", erklärt Mr. Ryland. „Einige von euch sind neu, und es hilft, wenn ihr euch auch untereinander vertrauter werdet." Sein Lächeln wirkt dabei fast einladend. Während manche Schüler die Idee mit Freude aufnehmen, rolle ich genervt die Augen. Ich bin nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Wenigstens ist der Kurs mit zehn Teilnehmern überschaubar.

Mr. Ryland schreibt drei Punkte an die grüne Tafel:

1.Nennen Sie Ihren Namen und Ihr Alter.

2.Erläutern Sie, was Sie gerne tun, wenn Ihnen langweilig ist.

3.Beantworten Sie ehrlich: Ist es wichtiger, geliebt zu werden, auch wenn man sich selbst nicht liebt, oder gehasst zu werden, dabei aber in Harmonie mit sich selbst zu sein?

Was für absurde Fragen. Warum sollte jemand wissen wollen, was ich tue, wenn mir langweilig ist? Und warum sollte es die anderen kümmern, ob ich mich selbst liebe oder hasse? Diese Themen sind doch höchst persönlich. Ich bin kurz davor, meine Hand zu heben, um zu fragen, ob man wirklich alles beantworten muss. Doch bevor ich dazu komme, meldet sich ein Mädchen mit kurz geschnittenem Haar und schlägt einen alternativen Vorschlag vor:

„Können wir uns nicht einfach selbst vorstellen? Diese Fragen sind... nun ja..."

„Beschissen", ergänzt ein Junge von hinten schnippisch. Seine Stimme hallt im Raum wider, und ich drehe mich neugierig um. Wer ist derjenige, der genau meine Gedanken laut ausspricht? Der Lehrer hebt seine Augenbrauen und blickt den Jungen streng an.

„Solche Ausdrücke dulde ich nicht in meinem Unterricht", sagt er ruhig, aber bestimmt. Nach einem Moment fügt er hinzu: „Die Fragen sind gar nicht so schlimm. Versuchen Sie es doch einfach mal."

Eine peinliche Stille breitet sich aus. Als niemand anderes reagiert, melde ich mich schließlich aus Pflichtgefühl, ich will Mr. Ryland nicht im Stich lassen.

„Mein Name ist Asteria Amnick, ich bin siebzehn Jahre alt. In meiner Freizeit widme ich mich dem Skaten oder der Schule", beginne ich ruhig. „Die letzte Frage ist sehr persönlich, aber ich versuche, sie so neutral wie möglich zu beantworten: Geliebt zu werden ist schön, aber wichtiger ist es mir, mich selbst zu akzeptieren und den Hass anderer auszublenden."

„Sehr gut gesagt, Miss Amnick", lobt Mr. Ryland lächelnd. Doch bevor ich reagieren kann, höre ich die Stimme des Mädchens von vorhin: „Du würdest lieber gehasst als geliebt werden?"

Ich drehe mich leicht zu ihr um. „Das ist meine Meinung. Du musst sie nicht teilen", entgegne ich kühl. Der Lehrer greift ein und erinnert die Klasse daran, keine Kommentare zu den Antworten anderer zu machen.

Die Vorstellungsrunde geht weiter. Ein Junge mit Tattoos stellt sich als Luca vor und erklärt, dass er lieber geliebt würde, da er besser damit umgehen könnte. Währenddessen kritzle ich ein kleines Herz in meine Notizen und male es aus, um die Zeit totzuschlagen.

Schließlich wendet sich Mr. Ryland an den Neuling, der sich bislang verweigert hatte. „Entweder beantworten Sie die Fragen, oder Sie verlassen meinen Kurs."

Nach einem kurzen Moment des Zögerns spricht er schließlich: „Ich bin Damino Remington und vor ein paar Tagen achtzehn geworden. Ich verbringe meine freie Zeit entweder in der Bibliothek oder beim Sport. Und zur letzten Frage: Ich würde lieber mich selbst akzeptieren wollen. Die Liebe anderer bringt mir nichts, wenn ich nicht mit mir selbst im Reinen bin."

Seine Worte hallen im Raum nach, und ich spüre, wie sich Wut in mir breitmacht. Ich hasse es, dass er genau so empfindet wie ich. Das Gefühl, ihm in irgendeiner Hinsicht ähnlich zu sein, ist unerträglich.

Während ich meine Gedanken ordne, knackt es plötzlich. Alle Blicke richten sich auf mich. Der Deckel meines Tintenrollers ist unter meinem Druck zerbrochen. Peinlich berührt sehe ich auf mein Notizheft.

„War doch gar kein schlechter Start, oder?", versucht Mr. Ryland, die Stimmung aufzuhellen. Ich nehme mir vor, ruhig zu bleiben. Trotzdem will ich am liebsten aufstehen und den Raum verlassen – weg von Damino Remington und seiner unerträglich perfekten Fassade.

Was ist eure Meinung zu der dritten Frage? Die Sichtweise von Asteria und Damino oder, die der anderen Schüler?

𝑩𝒆𝒕𝒘𝒆𝒆𝒏 𝒚𝒐𝒖 𝒂𝒏𝒅 𝒎𝒆Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt