3. Kapitel- Träume der Vergangenheit

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„Heute Nacht kannst du erstmal hier bleiben. Morgen sehen wir dann weiter, ja?", die freche Stimme des Jungen drang durch den kleinen, mit einer Matratze und Kartons zugestellten Raum, der von nun an wohl meine eigene Wohnung darstellen würde. Ein Bad und eine kleine Küche grenzten an dem Zimmerchen, welches von zwei großen Fenster mit Helligkeit beschenkt wurde. Alles in allem eine kleine, chaotische, doch auch friedvolle Umgebung. Ich mochte es hier und besser als mein vorheriges Keller-Abteil war es allemal. „Also, wenn du noch 'was brauchst, komm einfach vorbei. Ich wohne nur zwei Straßen weiter!", mit diesen Worten drückte mir der rothaarige Winzling einen, mit seiner Adresse bekritzelten, Zettel in die Hand. Ich schwieg, versuchte die Hintergedanken, die er doch mit Sicherheit haben musste, aus seinem Blick zu lesen, doch es gelang mir nicht. Das einzige was ich in ihm sah, war pure Liebe und Lebensfreude. Na gut, ein wenig mürrisch war er auch, doch mindestens genauso hilfsbereit. Diese Dinge verunsicherten mich. Er verunsicherte mich, sodass ich letztlich ziemlich froh war, als er ging. Ich brauchte einfach einen Moment für mich, um überblicken zu können, was hier überhaupt alles geschah. Einfach um mich zu ordnen. Seufzend ließ ich mich rückwärts auf die Matratze fallen und schluckte schwer. Sie war so viel weicher, als der kalte Boden. Erschöpft drehte ich mich auf die Seite und rieb mir die Augen. Mein Kopf schmerzte und ich spürte, wie mir die Lider immer schwerer wurden. Was war bloß geschehen? Wieso war ich hier? Ich senkte den Kopf, strich mir das dunkle Haar ins Gesicht. Ich verstand echt gar nichts mehr. Wer war ich denn überhaupt?
Müde und völlig am Ende mit der Welt, zog ich die dicke Federdecke, vom Fußende des Bettes, zu mir hinauf. Augenblicklich umschloss mich diese unglaublich ungewohnte Wärme und ich konnte mich nicht länger wach halten, schlief einfach ein, ohne dass ich etwas daran hätte ändern können.

Die scharfe Klinge funkelte im Licht der blutroten Abendsonne. Sein krankes Grinsen war breit, beängstigend und obendrein noch auf mich gerichtet. Ich spüre es noch immer, dieses Gefühl von Unbedeutendheit, Hilflosigkeit. In solch einer Situation bemerkt man erst einmal, wie schwach und klein man eigentlich sein kann. Doch damals schwor ich mir, mich nie wieder so fühlen zu wollen. Dennoch, zu diesem Zeitpunkt, da war mein Kopf leer. Mein Vater stand vor mir, er setzte einen Schritt vor den Nächsten und ich fühlte, wie ein eiskalter Schauer an meinem vernarbten Rücken hinab lief. „Du bist der Nächste!", flüsterte er wie in Trance und ich biss die Zähne zusammen. Zwar war ich nun endlich volljährig, doch mich gegenüber diesem Menschen behaupten? Das wollte mir einfach nicht gelingen. Weshalb war ich nur so schwach?! So dumm?! Hätte ich ihn doch einfach sofort ermordet, dann wäre es niemals soweit gekommen, wie es letztendlich kam.. Vermisst hätte ihn ohnehin niemand. Nur noch er, meine geliebte Schwester und ich waren übrig geblieben. Die anderen waren nach und nach Opfer der Familientreffen geworden. Einer nach dem anderen schlachteten wir sie ab. Ich hatte sie in den Tod geprügelt. Mit diesen rauen Händen, die in diesem Augenblick zitternd und taub vor Angst an meinem, mittlerweile so robusten, Körper hinab hingen. Und ich konnte mich nicht rühren. Konnte nichts sagen, sah ihm einfach nur in seine eisigen, dunklen Augen, die wie kalte Steine in seinem Gesicht saßen. Furcht, mehr empfand ich in diesem Moment nicht. Keinen Schmerz, keinen Hass. Einfach nur pure Furcht vor den Qualen, die mir dieser Mann vorhatte anzutun. Ich wusste ja, wozu er fähig war. Die Narben an meinem Rücken und seine unzähligen 'Liebesgeständnisse' berichteten davon. Ich wollte sterben. Sofort. Dann blieben mir die Qualen wenigstens erspart, doch gerade in dieser Sekunde, gerade, als ich bereits aufgegeben hatte, rief eine helle, kräftige Stimme hinter mir. „Ethan! Pass auf!", kreischte sie und als hätte sie einen Schalter in mir umgelegt, weiteten sich meine Augen, ich wand mich und rannte los. Meine Schwester stand im Türrahmen, schaute keuchend zu mir auf. Und ihr rotes Haar hing ihr tief ins Gesicht. Rasch packte ich ihr Handgelenk und zog sie hinter mich her, ins Badezimmer. Würde ich sterben, wäre sie die Nächste! Das durfte ich auf einen Fall zulassen! Sie durfte nicht sterben! Fest schmiss ich die Bad-Tür hinter uns ins Schloss und sperrte sie mit einem kleinen Schlüssel ab. Panisch wandte ich mich umher, suchte verzweifelt nach einer Lösung, einer Rettung. Nicht für mich, für sie. Für den einzigen Menschen, der es jemals gut mit mir gemeint hatte. Für meine große Schwester! „Ethan." Sie nahm meine Hände in ihre und ich stockte, während bereits Tränen an meinen Wangen hinab liefen. Ich war am Ende! Wir befanden uns im dritten Stock! Abgesehen davon waren die Fenster verriegelt und hier gab es auch nichts, was bei einer Flucht hätte nützlich sein können. Was sollte ich tun?! Nein, so durfte es nicht enden! Sie sollte doch leben! Für uns beide! Schluchzend ließ ich mich gegen ihre Schulter fallen, prägte mir ihren süßen Duft ein. Ein letztes Mal roch ich sie. Sie duftete nach frisch gepflückten Rosen, nach Sommer und Freiheit. „Alles, was ich über dieser Welt weiß, weiß ich von dir! Du brachtest mir bei, was in der Frühe immer singt- Vögel. Du unterrichtetest mich über die Sonne, die Sterne, die Unendlichkeit! Durch dich weiß ich, was ein Mensch überhaupt ist! Du zeigtest mir, was es heißt, zu leben! Doch, wie ich dich beschützen kann, das hast du mir nicht beigebracht!", ich biss die Zähne zusammen, rang nach Luft und drückte sie so fest ich es nur konnte, an mich. Ich brauchte sie! Sie war doch meine Schwester! Sie war alles was ich hatte! Es lauter Knall ertönte und ich nahm wahr, wie mein Vater grausame Dinge schrie. Es war, als wäre er direkt aus der Hölle zu uns gekommen, einzig um die Qual des Daseins zu bekräftigen. Und nun, nun hatte er es geschafft, mit seiner Klinge durch die Tür zu stoßen. Es würde nicht mehr lang dauern, bis sie sich auftäte und dann? Dann war es vorbei. Mit meiner Schwester, mit mir. Dann würden wir nie wieder Qualen spüren. Würden nie wieder leiden. Oder? Doch was blieb uns dann noch? Allein auf der anderen Seite.
„Renn!", ihre Stimme war ganz brüchig, doch ihr Blick war fest und gewissenhaft, auch wenn ihre Augen gläsern waren. Ich verstand nicht, als dann jedoch die Tür aufsprang, sie auf ihn stürmte und ihn umstieß, war es mir plötzlich völlig klar. Sie opferte sich. Den Bruchteil einer Sekunde konnte ich nicht anders, als untätig im Badezimmer zu stehen und auf meine Heldin hinabzublicken. Ich war geschockt. Wieso? Ich fragte mich warum?! Erst, als die helle Stimme schrie, ich solle laufen, hatte mich die Fassung wieder und ich rannte an den beiden vorbei. Da sprang meine Schwester blitzschnell auf und folgte mir. Hand in Hand rannten wir die Treppe des alten Hauses hinab, doch es brachte nichts. Wir waren zu langsam, denn der Mann hatte mein Schwesterchen am Bein erwischt. Tief hatte er sein Messer in ihr Fleisch gerammt, aus welchem nun ununterbrochen Blut floss. „Ethan. Ich schaff es nicht! Aber du, du bist stark und schlau! Flieh durch ein Fenster oder eine unverriegelte Tür! Du musst gehen!", sprach sie und umarmte mich dabei, aber nein! Nein, ich konnte sie doch nicht hier zurück lassen! Nein nein! „Bitte, geh!", sie sah mich lächelnd an und ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Nein! Wie konnte sie nur so etwas sagen?! Weinend kniff ich die Augen zusammen! Nein!
Da tauchte mein Vater erneut auf. Er war blutüberströmt, wirkte wahrhaftig wahnsinnig. „Eigentlich wollte ich mir dich bis zum Schluss aufheben, Weib! Wir hätten viel Spaß miteinander haben können! Aber bitte, wenn du dich so unbedingt vordrängeln möchtest, unhöfliches Miststück!", lachte er nur und rümpfte sich seine Nase. Bedrohlich stampfte auf uns zu und ich schluckte schwer, wobei sich meine Hände dennoch zu Fäusten ballten. Trotz allem hatte er durch seine Worte Schande über meine geliebte Schwester gebracht. Konnte ich das tatsächlich zulassen? Natürlich hatte ich Angst, doch wie konnte ich hier stehen, solche Sätze hören und trotzdem nichts tun?! „Nimm das sofort zurück!", knurrte ich daraufhin. Dies schien meinen Vater zu erstaunen. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch, verfiel in ein lautes Gelächter, sodass sich sogar Freudentränen in seinen Augen sammelten. Ich konnte es kaum ertragen, hatte jedoch nicht vor von meinen Worten abzuweichen. Mutig stellte ich mich vor meine Schwester, doch sie schob mich beiseite. „Geh!", flehte sie und mich Vater nickte. „Hör auf sie, Sohn. Versuch zu fliehen, solang du noch kannst! Dann können die Kleine und ich uns derweil noch ein wenig amüsieren! Obwohl, so lecker wie du, ist sie sicher nicht!" Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und die Haare meiner Arme stellten sich auf. Ekelerregend, der Gedanken an jedes einzelne Mal wo ich 'leckerer' war. Allerdings gab ich noch immer nicht nach, blieb stur an der Stelle und bewegte mich keinen Zentimeter. Ich würde beschützen, was ich liebe! Das zumindest hatte ich versucht, doch die Hölle breitete sich immer weiter aus. Niemand konnte sie stoppen. Die Dunkelheit war stärker als das Licht. Die Gewalt mächtiger als jede Liebe. Dies wurde mir in dieser Nacht schmerzhaft vor Augen geführt und ich konnte nichts tun, als hilflos zuzusehen, wie er meine Schwester ermordete. Wie die Klinge immer wieder auf sie traf, bis sie nicht mehr atmete und sich die Fliesen, auf denen sie lag, so rot gefärbt hatten, dass man es kaum von ihrem fuchsigen Haar unterscheiden konnte. Bis zur letzten Sekunde hatte sie nicht geschrien und ich wusste, dass es meinetwegen war, denn bis zur letzten Sekunde hatte ihr zartes, junges Herz für mich geschlagen. Ich schrie auf und als der Mann sich erhob, meine Fesseln löste, da überkam es mich. Ihr Blut klebte an ihm! Ich umschloss seinen Hals, drückte ihn, schüttelte ihn, griff ihn so fest ich nur konnte. Seine Augen weiteten sich und er rang nach Luft, doch ich gab nicht nach. „Du hast Sie umgebracht! Mörder!!", brüllte ich, drückte ihn zu Boden und schlug seinen Kopf immer wieder auf die Fliesen, bis auch sein, ohnehin schon taubes, Herz zu Schlagen aufhörte. Es stoppte und er starb in meinen Händen. Ich derweil grinste nur als ich spürte, wie sein Leben ausgelöscht wurde. Dieser Mann hatte mir alles genommen. Er hatte mich die Qualen der Welt durchleben lassen, jeden Tag. Mit Spaß. Er hatte es verdient zu sterben! Sie hatten es alle verdient! Zitternd erhob ich mich, strich mir mit dem Handrücken über die Stirn. „Es tut mir leid.", flüsterte ich zu meiner Schwester, die leblos am Boden lag. Still kniete ich nieder, strich ihr sanft über ihr schmales Gesicht. Ich hatte sie nicht retten können. Nur meinetwegen war sie nun tot. Ich biss die Zähne zusammen. Ja, sie war tot. Kaum als ich das erkannt hatte, erhob ich mich. Ich drehte mich, wie in Trance zu der Eingangstür am Ende des Ganges. Ohne darüber nachzudenken, trat ich sie ein, verließ das Haus. Noch nie hatte ich dieses Gebäude von außen gesehen. Noch nie die Welt außerhalb betreten. Doch nun erschien es mir so egal. Es war mir gleichgültig. Sie war tot. Ich spürte, wie Wut in mir aufflammte. Rache. Es war ein Gefühl von unendlich tiefgehender Rache, was ich empfand. Ein Opfer reichte mir nicht, um sie zu stillen. Ich brauchte mehr. Sie war tot! Niemand hatte uns geholfen! Keiner hatte sie gerettet! Ich schrie auf. Wer war der Schuldige, wenn nicht ich? Was sollte ich denn jetzt tun?! Wo sollte ich hin?! Wer hatte es verdient, meiner Wut ausgesetzt zu sein? Vielleicht der Staat? Die Polizei? Doch nein, sie traf keine Schuld. Ich war verwirrt, ohne Richtung. Wohin mit dieser Aggression in mir?! Da fand ich auf einmal einen Wagen vor. Er stand in der Einfahrt, die Scheiben schwarz getönt und den schwarzen Lack zierte ein blauer Vogel. Stirnrunzelnd betrachtete ich ihn, doch bevor ich mir eine gescheite Meinung darüber hatte bilden können, traf mich bereits ein harter Gegenstand am Hinterkopf. Einige Männer versammelten sich um mich, während ich zu Boden fiel. Sie hatten mich mit Absicht nieder geschlagen! Doch, wer waren sie? Ich schluchzte leise auf. War es das nun endgültig?! Dabei hatte ich es schon so weit geschafft! Ich war draußen, war der Hölle meiner Kindheit entkommen! Zum aller ersten Mal in meinem Leben konnte ich sogar das Blau des Himmels ohne Hindernis betrachten. Stumm sah ich zu den Wolken hinauf, die scheinbar rasend schnell vorbeizogen. Ein sachtes Lächeln lag mir auf den Lippen, bevor alles verschwamm und sich erneut schwärzte. Keine Frage, die Dunkelheit würde mich niemals gehen lassen. Sie verschluckte alles, sogar meine Schwester. Alles! Und doch hörte ich noch immer ihr Lachen und ihre helle Stimme, wenn sie rief: „Ethan!"... ihre helle, zarte Stimme...

Höllenkrieger- Legt die Waffen nieder!  || Boyslove! Yaoi!♡~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt