44. Kapitel- Verschwinde!

47 10 2
                                    

Ganz hektisch war es. Jeder wollte möglichst schnell zurück zu Haus und Hof, zum Arbeitsplatz oder gar einem wichtigen Termin, sodass die Kunden zu jener belebten Uhrzeit wie wild durch den Laden hetzten. Ganze Körbe voll schleppten sie zu den Bänden der Kasse und gar nicht schnell genug konnte es ihnen gehen. Kaum standen sie nur wenige Minuten an einer Schlange an, begannen sie bereits mit Seufzten, so eilig hatten sie es anscheinend. Und laut war es, furchtbar unruhig. Alle sprachen sie durcheinander, erzählten untereinander, telefonierten oder wollten Wegbeschreibungen meinerseits durch das Geschäft erfahren. Und all das zeitgleich. Dennoch, zu mir drang nur wenig durch. Es war, als wäre ich unter Wasser, alles war so weit weg, so gedämpft. Es war, als sprächen sie eine vollkommen andere Sprache als ich und ich vernahm deutlich, wie selbst meine Sicht zunehmend unklar wurde. Sie verschwammen immer mehr, die Käufer, ihre Waren, meine Kollegen. Ich brauchte dringend eine Pause, um überhaupt erst einmal wieder klar zu kommen. Ich musste mir eine Auszeit gewähren, denn zu sehr belasteten mich die letzten Erkenntnisse. Es war, als hätten sie mich mitten ins Herz getroffen, tief und grob. Und ich konnte nicht mehr klar denken, alles zog an mir vorbei und ich konnte nichts tun, als zuzusehen, fast so, als wäre ich bereits tot.Ein Geist, befreit von allen Pflichten, allen Lasten.
Und dennoch, es half nichts, ich musste zumindest versuchen meine Arbeit recht löblich, höchst gewissenhaft, abzuschließen, auch wenn es mir in jenem Moment noch so unmöglich erschien. Dementsprechend zog ich also einen Einkauf nach dem Nächsten über das schmale, schwarze Band und das schrille Piep-Geräusch der Kasse erinnerte mich bei jedem neuen Ertönen an das Hier und Jetzt, in dem ich mich leider noch immer befand.
Eine ganze Weile ging das so, doch wie lang genau vermochte ich nicht zu erkennen. Keine Ahnung ob es sich jetzt nur um Minuten oder gar um Stunden handelte. Was ich jedoch deutlichst zu spüren vermochte war, der, nicht abnehmen-wollende Andrang an Kunden, welche sich, gefühlte Kilometer weit durch das Geschäft, ausgerechnet an meiner Kasse anzustellen gedachten. Echt, ganz toll. Doch wer verübelte es ihnen schon, in Anbetracht daran, dass nur zwei Kassen besetzt waren. Nun, was wollte man machen, wenn es an allen Ecken und Enden an Personal mangelte?
Und so erledigte ich meinen Job so gut, wie ich es in meiner Verfassung eben vermochte, bis eine dunkle, kratzige Stimme erklang, deren Ziel es wohl war, von mir erhöht zu werden. Erst bemerkte ich sie kaum, doch als sie sich schließlich erhob und ich mir darüber bewusst wurde, dass sie mir gar nicht einmal so unbekannt zu sein schien, holte ausgerechnet das mich aus meinem beinah Trance-artigen Zustand. Urplötzlich blinzelte ich auf und blickte mich, schon fast etwas erschreckt, um.
„Na endlich! Mach 'mal hin mit dem Kassieren, ich muss weiter! Bist in Gedanken wohl bei deinem Schatzi?! Wie geht’s dem Kleinen denn? Lebt er noch?“ Jene Worte waren es, die mich zurück in der Realität empfingen, gefolgt von einem schmierigen, ekelhaften Grinsen, welches vor Genugtuung und Arroganz nur so triefte. Kurz brauchte ich, um zumindest einmal zu verstehen, was mein Gegenüber da gerade von sich gegeben hatte. „Bitte was?“, erwiderte ich deshalb auch recht irritiert, bis es augenblicklich Klick machte und mich ja beinah der Schlag traf, als ich erkannte, wer da breitbeinig und wie der Macher der Welt, vor mir stand. Es war einer der Gorillas, welche meinem Vermieter und mir letztens nach unserem Karaoke-Abend aufgelauert hatten. Einer der Typen, die meinen Freund wohl auch zusammen geschlagen hatten. Der Grund, weshalb Jan nun im Krankenhaus zu liegen hatte, wieso er Schmerzen und Leid ertragen musste. Dieser Mann vor mir, der war es, der meinen Fuchs so verletzt hatte. Der ihn am liebsten wohl tot sehen würde. Er war es, der ihn geschlagen und getreten hatte. Der ihn beschimpfte, bespuckte. Der ihm Angst machte.
Ich spürte, wie sich alles in mir zusammen zog, wie mein Körper sich vollkommen verspannte. Langsam nur erhob ich mich. „Verschwinde.“, bat ich leise, wobei meine Miene sich augenblicklich versteinerte. Ich war mir völlig bewusst, dass dies hier mein Arbeitsplatz war und den hatte ich zu schützen. Es ging nicht, dass ich mich hier an dieser Made rächte, zumal mir die Kündigung drohte, würde ich einen Kunden auch nur schief ansehen und dennoch, wie er da so stand, als wäre er der Größte, mit den Händen in den Hosentaschen und mir provokativ entgegen lachte, spürte ich die Wut und den Hass bereits in mir brodeln. Ich hasste diesen Menschen, keine Frage, ich wollte seinen Tod, am besten auf der Stelle. Doch, das ging nicht. Noch nicht. Dementsprechend versuchte ich mich zu beruhigen, trat langsam um meine Kasse herum. „Ich bitte Sie inständig, verlassen Sie bitte den Markt.“ Ich konnte die Anwesenheit von diesem Kerl keine Sekunde länger ertragen. Er sollte einfach gehen. Wieso musste eine freundliche, ehrliche alte Dame sterben und dieser Untermensch durfte hier einfach so frei herum laufen? Warum?! „Dann ist er noch am Leben oder wie?“, seufzte mein Gegenüber und stand mittlerweile nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Ganz ruhig, Ethan. Der wollte mich doch nur provozieren! Doch darauf durfte ich mich gar nicht erst einlassen. Auf keinen Fall! Gerade also wollte ich mich wieder zurück ziehen, da auch bereits die hinteren Kunden der Warteschlange zu drängeln begangen, da verließ ein Wort die Lippen der Made. Ein Wort, das jegliche Vernunft in mir auszuschalten begann, und zwar sofort. Es war, als hätte dieser Typ mich tief ins Mark getroffen. Als ob es nicht reichen würde, dass er Hand an meinen heiligsten Schatz gelegt hatte. Nein, er setzte sogar noch einen drauf: „Schade.“ Er hätte ihn also getötet? Er hatte meinen Kleinen umbringen wollen? Schade nannte er Jans Überleben? Schade?! Könnt ihr euch das vorstellen?! Schade!
Wie aus dem Nichts machte ich Kehrt. Ich rannte auf diesen Mistsack zu, schmiss ihn einfach zu Boden. Keine Ahnung wie genau es geschehen war, doch fand ich mich nur wenige Sekunden später bereits auf dieser Made sitzend wieder. Ich hatte mich auf seinem Bauch nieder gelassen, beugte mich weit über ihn und schlug auf seinen Kopf, sein Gesicht, ein. Immer und immer wieder, bis er zu bluten begann, bis seine Nase brach und er sich kaum noch bei Bewusstsein halten konnte. Wieder und wieder trafen meine Fäuste dieses Vieh und ich spürte wie meine Tränen auf seine Wangen hinab tropften. „Du Scheißkerl! Wolltest ihn einfach umbringen! Dreckiger...“ Mein Schluchzen unterbrach meine Stimme, zu sehr schmerzte es, auch nur daran zu denken. Wäre Jan gestorben, nur, weil ich zu unfähig gewesen war, ihn zu beschützen und das, obwohl ich mir doch geschworen hatte, das Leben des Kleinen zu bewahren, ihn von allem Leid zu befreien, ich hätte es mir niemals verziehen. Wäre er gestorben, hätte auch ich diesen Weg gewählt. Mit ihm zusammen wäre ich ins Reich der Toten gegangen, einzig und allein um dort Buße für mein Versagen zu tun. Ja, ich hatte versagt und das auf ganzer Linie. Wäre er gestorben, ich wüsste nicht, wie ich dann hätte auch nur einen Tag weiter machen können. Er war doch mein Jan, mein Füchschen, das Licht, welches mir den Weg zeigte, den ich bereits mein ganzes Leben gesucht hatte.
Und dieser Typ hier unter mir, der wollte ihn mir einfach wegnehmen, meinen Freund. Und das mit Spaß! Wie?! Wie konnte es sein, dass so jemand weiter bestehenen durfte?!
Ich stellte meine Hände neben dem blutig zugerichteten Mann auf dem Boden ab, drückte meine tief blauen Fingerknöchel auf die kalten Fliesen des Einkaufmarktes. Scheiße!
„Ethan!“, erklang nun erst der Schrei meines Arbeitgebers, der mich von dem Kunden herunter zerrte, sich zu dem angeblichen Opfer hinab beugte. Dieser gewann langsam wieder an Klarheit. „Sollen wir die Polizei rufen?!“, rief einer der wartenden Kunden, der Schläger meines Freundes jedoch grinste nur blutüberströmt auf. „Nein. Jetzt sind wir quitt. So klärt man das auf der Straße!“, keuchte er und spuckte dabei einige seiner Zähne aus. Ich hingegen zitterte noch immer vor Hass. Quitt?! Nein, niemals wieder würden dieser Mistkäfer und ich 'quitt' sein! Nie!
Vollkommen außer Atem blickte ich mich um, sah in schockierte, ängstliche Gesichter. Die Kunden und Mitarbeiter, welche alles mit angesehen hatten, betrachteten mich, als wäre ich ein Monster. Und ganz still waren sie auf einmal, sodass sogar ihr zitternder Atmen deutlich hörbar war. Nun, vielleicht stimmte es ja, möglicherweise war ich ein Monster. Doch wenn mir das erlaubte, das Leben dieses erbärmlichen Kerls auszulöschen, dann war ich es gern. Mein gesamter Körper verzerrte sich nach Rache für das, was er Jan angetan hatte, doch erneut erklangen die lauten, todernsten Worte meines Chefs, welche mich zurück auf den Boden der Tatsachen katapultierten. „Du bist gefeuert! Nimm deine Sachen und verschwinde! Sofort! Und wehe, du lässt dich hier auch nur noch ein einziges Mal blicken, dann rufe ich sofort die Bullen! Und nun geh!“ Fassungslos starrte ich ihn an. Aber nein, wieso? Dieser Typ hatte mich doch provoziert. Er war der Böse, der einen unschuldigen Jungen auf dem Gewissen hatte! Doch ich sah in ihre Gesichter und da wusste ich, es war egal was ich nun sagen oder tun würde, sie würden meinen Worten kleinen Glauben schenken. Nein, ich konnte nichts mehr tun. Und so legte ich meine Schürze ab und ging. Ich ging und mir wurde bewusst, dass ich gerade die Grundlage meines Einkommens und somit meines jetzigen Lebens verloren hatte. Einfach so. Ohne auch nur irgendetwas dagegen tun zu können.

Höllenkrieger- Legt die Waffen nieder!  || Boyslove! Yaoi!♡~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt