68. Kapitel- Tiefpunkt

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Das Leben hat einen Anfang und ein Ende. Von Geburt bis zum Tod, so sagt man. Es beginnt mit dem Erblicken des Tageslichtes und schließt ab mit dem Stillstand des Herzens.
Natürlich, so musste es sein. So erlernte man es von der Gesellschaft. Doch jetzt, in genau diesem Moment, da wusste ich es besser als die. Ich wusste, dass mein Leben nicht mit dem Sterben, dem hinuntersinken in die Erde oder der leisen Ansprache eines Bestatters endete. Nein, es geschah genau jetzt. In dieser unscheinbaren, klitzekleinen Parkanlage, inmitten einer gigantischen Großstadt. Auf einer langen Holzbank, welche mir als Schlafstätte diente, als Kissen meine knittrige Tüte, als Decke ein dunkler Pullover. Lange schon war es her, dass ich so unbequem gelegen hatte. Verwöhnt, das war ich mittlerweile. Und auch die nächtliche Kälte, welche mir zunehmend tiefer in sämtliche Knochen kroch, war wohl von mir unterschätzt worden. Noch nie war ich obdachlos gewesen, das hatte ich meinem ehemaligen Mitbewohner vor kurzen noch gesagt, doch nun? Da war ich es.
Der Mond schien hell zwischen den tiefen Wolken hervor, doch kein Lächeln stieg auf meine Lippen, während ich stumm in die Dunkelheit starrte. Hier endete es, mein Leben. Hier war es vorbei. Und ich konnte nicht einmal etwas sagen, tun oder denken, was dieses Ende verhindern hätte können.
Ich hatte gewusst, dass es so kommen würde. Ja, von Anfang an war es auf diesen Moment hinaus gelaufen. Menschen wie ich hatten keine Gnade verdient, so wurde es mich einst von meinen Eltern gelehrt und wie es aussah, behielten sie Recht.
Hier lag ich nun, unwissend ob ich die eisige Nacht heil überstehen würde. Doch keinen Gedanken verschwendete ich an diese Option. Keine Überlegung, nicht mal einen Augenblick widmete ich mich einem von diesen Nichtigkeiten. Sie waren schlichtweg unbedeutend. Denn keine einzige Sekunde verging, in der ich nicht an ihn dachte. An Jan. An all die Tage und Wochen, die ich mit ihm verbringen durfte. Und ich spürte, wie sich ein gewaltiges, tiefschwarzes Loch in meine Brust brannte, in welcher bisher noch dieser kleine, goldschimmernde Hoffnungsstrahl geleuchtet hatte. Es war vorbei. Alles war nun endgültig vorbei. Und ich konnte nicht einmal weinen. Nichts. Ich lag nur hier, starrend in die Leere der Nacht, nicht fähig mich zu rühren. Und ich hoffte, dass der Morgen niemals anbrechen würde, denn dann, ja dann begann der erste Tag meines restlichen, düsteren Lebens, ohne Jan. Ohne mein Licht. Ohne meine Hoffnung.

In jener Nacht schlief ich nicht. Wie auch? Ich lag nur still da. Nach einer Weile hatte ich aufgehört über Jan nachzudenken. Ich dachte eigentlich gar nicht mehr. Ich lag nur da. Atmete. Das war alles. Als schließlich die Sonne aufging und die Vögel zu zwitschern begannen, ja, da lag ich noch immer dort. Und selbst, als sich die morgendliche Routine der Stadt in Gang setzte, hunderte von Leuten an mir vorbeigelaufen kamen, mich anglotzend wie im Zoo, lag ich da. Sah sie nicht, hörte sie nicht. Auch die Uniformträger, die mich wiederholt darum baten, den Platz zu räumen, nahm ich nicht wahr. Es schien, als hätte ich die Nacht tatsächlich nicht überstanden. Nur das dies hier viel schlimmer als der Tod war.
Schließlich begannen die Polizisten an mir zu ruckeln und zu zerren, stießen mich sogar von der Bank hinab, nur damit ich endlich reagierte. Doch das tat ich nicht. Ich lag dort, im Dreck und Staub auf dem Kiesweg, und rührte mich nicht. Es war aus, vorbei, Adieu Welt.
Eine Weile lag ich dort, die Uniformträger redeten noch immer auf mich ein.-Ihre Stimmen erreichten mich nicht, als wäre ich taub.- Da kam ein junger Mann vorbei, auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle. Er hielt vor mir an, beobachtete das Geschehen und begann fortan mit den Beamten zu sprechen. Ich wusste, seine Stimme kam mir bekannt vor, denn sie schien weniger entfernt zu sein. Anschließend verlor ich den Kies unter mir, wurde scheinbar aufgerichtet und die bekannte Stimme näherte sich mir, verschwommen und verzerrt. Sie flüsterte meinen Namen. Zumindest klang es für mich wie ein Flüstern, so still schien es.

Das nächste, was mein Körper wahrnahm, war weich und warm. Fast wie eine Matratze oder Sofa-Polster. Es fühlte sich schön an und sogleich, als ich mich ganz auf dem sanften Untergrund befand, fielen mir die Augen zu und ich schlief ein.
Ich schlief lang, so lang, dass ich mich anschließend nicht mehr erinnerte, wie viele Stunden oder gar Tage ich damit verbracht hatte.

Meine Augen waren trocken, sie juckten und mein Rücken schmerzte noch immer von der Parkbank. Als ich mich drehte und automatisch gegen die Helligkeit anblinzelte, erblickte ich eine weiß gestrichene Holzzimmerdecke, an der mittig eine große, strahlende Lampe befestigt war. Ich betrachtete sie, sogleich ich einen zweiten Reiz auf mich wirken ließ. Es war ein Geräusch. Ein Knurren, nicht lebendig. Eher wie von einem Kaffee- oder Wasserkocher. Nur ganz leise, im Hintergrund.
Wo ich war, konnte ich im besten Willen nicht sagen, doch klar war, ich hatte diesen Ort noch nie zuvor gesehen. Dennoch, ich hatte keinen Antrieb dazu mir irgendeine sinnlose Frage über die derzeitige Örtlichkeit oder sonst etwas zu beantworten. Also drehte ich mich auf die Seite, erkannte die Rückenlehne eines Sofas und schloss erneut meine Lider, bevor ich auch nur einen weiteren Eindruck auf mich wirken lassen konnte.

„Ethan.", flüsterte mir einige Zeit später eine raue Stimme zu. Erst wollte ich mich umdrehen, doch tat ich es nicht. Ich konnte nicht. Schweigend öffnete ich meine Augen, erkannte noch immer die Rückenlehne vor mir und studierte sie mit meinen Blicken. Nun, was heißt studieren? Ich dachte nicht über sie nach oder ähnliches. Ich sah sie einfach nur an, als wäre sie das einzige, was ich meinen Lebtag zu Gesicht bekommen hatte. „Ich hab' dir etwas zu Essen gemacht, Ethan. Du musst hungrig sein." Ben reichte mir ein Tablet mit einem ausgewogenen Frühstück, doch obwohl ich seine Stimme mittlerweile erkannt hatte, drehte ich mich nicht um, sondern lag still und schwieg.

So ging das einige Tage weiter. Er zwang mich zum Trinken und eine Mahlzeit pro Tag war Pflicht, ansonsten bewegte ich mich nur alle paar Stunden auf die Toilette. Den Rest der Zeit lag ich dort, auf dem Sofa und starrte entweder das Holz der Decke oder den Stoff der Rückenlehne an. Ich sprach nicht, weinte nicht, handelte nicht, sah nicht fern und dachte nicht nach. Ich lag einfach da. Nichts weiter.
Oft suchte Benedikt das Gespräch mit mir, doch es war jedes einzelne Mal vergebens. Unter normalen Umständen wäre ich vermutlich keine Nacht bei ihm geblieben. Immerhin gehörte er zu dieser Sekte, zu dieser verdammten Kolibri-Zeichen-Sekte. Doch es waren keine normalen Umstände, die mich zu ihm gebracht hatten. Ich war am Ende. Es war mir scheiß egal, bei wem ich schlief oder ob ich überhaupt schlief, ob ich aß oder trank. Alles war mir gleich. Ich lag nur da, auf dem Sofa und blickte ins Nichts.

Bis, ich weiß nicht wie viele Tage vergangen waren, Ben sich schließlich zu mir setzte. „Ich kann das nicht mehr machen, Ethan. Du musst woanders hin." Dabei sah er mich traurig an, vermutlich das erste Mal in seinem Leben, in dem er ehrlich aussprach, was er dachte. Doch ich reagierte nicht. Nicht mal ein Wimpernzucken. Ich betrachtete ihn nicht, ich wusste nicht einmal, ob ich seine Worte überhaupt verstanden hatte.
„Ethan. Es muss doch jemanden geben, zu dem du kannst. Nur einen. Sprich mit mir! Soll ich dich zu deinem Rotschopf bringen, vor dessen Haus ich dich mal abgesetzt habe?"
Ich schloss die Lider. „Nein.", sprach ich mein erstes Wort, nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens, bevor ich erneut verstummte.
„Du kannst nicht bleiben. Wohin soll ich dich bringen?"
Ich atmete schwer aus. Konnte ich nicht einfach in Ruhe schlafen? Wieso musste mich dieser Mann ansprechen? Ich wollte einfach nur hier liegen und versuchen zu schlafen. Mehr nicht. Liegen und schlafen. Für immer.

Höllenkrieger- Legt die Waffen nieder!  || Boyslove! Yaoi!♡~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt