65. Ich habe aufgegeben

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Josie's Perspektive

Immer wieder schreckte ich in dieser Nacht hoch. Immer wieder schaute ich mich panisch um. Immer wieder lief mir der eiskalte Schweiß an meinem Körper herunter. Immer wieder wurde mein Körper von einer Gänsehaut heimgesucht. Immer wieder sah ich die Bilder vor mir. Immer wieder sah ich Spencer vor mir. Immer wieder spürte ich seine Berührungen auf meiner Haut. Immer wieder liefen mir Tränen heiß an meinen Wangen entlang. Immer wieder sah ich sein dreckiges Grinsen vor mir. Immer wieder hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.

Doch immer wieder fing Carl mich auf. Immer wieder hielt er mich einfach nur fest. Immer wieder beruhigte er mich durch warme, ehrliche Worte. Immer wieder wischte er mir meine Tränen sanft weg, wurde dessen nicht müde. Immer wieder erklärte er mir leise, dass er mir nicht mehr wehtun konnte. Immer wieder erklärte er mir leise, dass ich in Sicherheit war. Immer wieder war er einfach da und hielt mich fest.

Immer wieder Mal sah ich auch Daryl am Fenster stehen. Immer wieder betrachtete er mich besorgt. Immer wieder fragte er mich, ob ich etwas brauchte.

Die Tage zogen langsam ins Land. Wie in Zeitlupe zogen sie an mir vorbei. Mal schien die Sonne, mal weichte sie den Wolken. Mal war es sternenklare Nacht, mal war sie Rabenschwarz. Mal schneite es, mal war es neblig und diesig. Kalt. Kalt war es immer. Draußen, wie drinnen. Draußen vor dem Fenster, drinnen in meinem Körper. Mein Körper war nur noch eine Hülle. Ein Schatten meiner selbst. Nichts interessierte mich mehr. Ich lag einfach nur im Bett. Mal schlief ich, mal war ich wach. Mal war ich Ansprechbar, mal nicht. Mal aß ich etwas, mal nicht.

Samu hat oft nach mir gesehen. Hat oft mit mir gesprochen. Versuchte mich zu überreden, wenigstens runter zu kommen, wenn ich schon nicht raus wollte. Meistens habe ich nicht reagiert. Hab ihn immer wieder weggeschickt. Wollte meine Ruhe haben.

Daryl war sehr oft da. Stand meistens einfach nur am Fenster und sah hinaus. Manchmal saß er auch auf dem Bett und betrachtete mich. Fast immer schweigend. Ich sagte nichts. Ich lächelte nicht mehr. Ich sah ihn nicht mal an. Starrte nur Löcher in die Decke.

Carl. Carl wich mir nicht mehr von der Seite. War Tag und Nacht da. War da für mich. Fing mich auf, wenn ich wieder drohte zu fallen. Trocknete unermüdlich meine Tränen, die mal mehr, mal weniger liefen. Hielt mich stundenlang einfach nur fest. Fest an sich gedrückt. Beschützend vor allem. Immer wieder erzählte er mir Geschichten von früher. Wollte mich aus meinem Loch holen, dass wusste ich. Doch ich konnte nicht. Doch ich wollte nicht. Erklärte mir immer wieder, dass ich in Sicherheit war. Das mir niemand etwas tun konnte. Dass sie mich alle beschützen würden. Doch Sicherheit. Was bedeutete das schon. Nichts war sicher. Nichts ist sicher. Nichts würde niemals sicher sein. Weder außerhalb der Mauern, noch hier drinnen.

Ich hatte mich selbst verloren. Ich bin von meinem Weg abgekommen. Es war so schwarz um mich herum, dass ich meinen Weg nicht wiederfand. Aber vielleicht wollte ich es auch gar nicht? Vielleicht wollte ich mich auch einfach nur weiter verstecken. Mich in meinem tiefen Loch verkriechen und nie wieder herauskommen.

Wofür lohnte es sich denn überhaupt noch, aufzustehen? Wofür lohnte es sich denn überhaupt noch, zu kämpfen? Wofür lohnte es sich denn überhaupt noch, vor die Tür zu gehen? Wofür lohnte es sich denn überhaupt noch, zu reden? Wofür lohnte es sich denn überhaupt noch, zu atmen? Wofür lohnte es sich denn überhaupt noch, zu leben?

Sie hatten es geschafft. Ich bin gebrochen. Ich habe aufgegeben. Sollte man ihnen dafür gratulieren?

Leise klopfte es an der Schlafzimmertür. Mal wieder. Doch ich reagierte nicht. Mal wieder nicht. Zog mir einfach die Decke über den Kopf. Tat so, als wäre ich nicht da. Bin ich ja auch irgendwie nicht. Wollte nicht da sein. Sollte nicht da sein. Spürte Carl sein Arm, der sich ein wenig fester um mich legte. Ich drehte mich in seinen Armen. Legte meinen Kopf auf seine Schulter. Die Decke blieb über meinen Kopf. Trotzdem hörte ich, wie die Tür aufging.

„Ist sie wach?" erkannte ich Daryl seine Stimme und spürte Carl sein Nicken.

„Das Essen ist fertig" erklärte Daryl leise und ich hörte, wie er den Teller auf den Nachtschrank stellte. Doch ich reagierte einfach nicht. Es war mir schlichtweg egal. Ich hatte keinen Hunger.

„Bitte Josie. Nur ein paar Löffel voll" bat Daryl mich mit ungewohnter sanfter Stimme. Spürte, wie das Bett sich etwas absenkte. Spürte, wie er sich draufsetzte. Spürte seinen Blick auf mich ruhen. Ließ mir Zeit, zu reagieren. Doch ich reagierte nicht. Ich ignorierte. Darin war ich in der Zwischenzeit ziemlich gut geworden. War auch gar nicht so schwer, wenn man erstmal den Dreh raus hat.

„Josie bitte. Du musst etwas essen!" knurrte er nun schon etwas deutlicher.

„Er hat Recht. Du musst doch bei Kräften bleiben" versuchte nun Carl sein Glück. Deutlich konnte ich die Sorge in seiner Stimme heraushören. Deutlich erkannte ich die Bitte, die darin lag.

„Josie. Wenn du nicht langsam was isst, dann werde ich dich dazu zwingen" knurrte Daryl verzweifelt und wütend. Doch auch das juckte mich nicht. Was konnte er schon großartig tun?

„Ich komme in 30 Minuten wieder. Wenn du bis dahin nichts gegessen hast, werde ich nachhelfen" drohte er mir nun regelrecht und nur wenige Augenblicke später hörte ich, wie die Tür ins Schloss knallte. Doch ich zuckte nicht mal zusammen. Ich wusste, dass er seine Drohung wahrmachen würde. Doch es schüchterte mich nicht ein. Es berührte mich nicht. Es juckte mich einfach nicht. Blieb unter der Decke liegen. Vernahm Carl sein leises Seufzen. Spürte seine Finger, die sanft über meinen Rücken streicheln. Langsam und sachte immer wieder hoch und runterfuhren. Konzentrierte mich darauf. Nur darauf. Bis die Tür wieder aufging. Waren die 30 Minuten schon um? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

„Man Josie. Sag mir, was ich machen muss, damit du was isst?" vernahm ich nun wieder Daryl seine Stimme. Ich blieb still. Plötzlich zog er die Decke weg und ich kniff die Augen zusammen.

„Sieh mich an!" befahl er mir und wartete einen Augenblick ab. „Du sollst mich anschauen!" knurrte er und umfasste mein Kinn. Nicht schmerzhaft, aber doch bestimmend. Drehte meinen Kopf langsam zu sich und wartete wieder einen Augenblick. Langsam öffnete ich meine Augen. Sah in seine hellblauen Augen. Sein Blick. Er wechselte. War er vorher wütend und überfordert. So ist er nun verzweifelt und voller Sorge. Traurig. Diesen Blick kannte ich nicht von ihm.

„Bitte iss etwas" bat er mich nun wieder etwas sanfter.

„Warum?" hauchte ich gleichgültig.

„Weil deine Augen, wenn du gehst, die Farbe mitnehmen und ohne dein Lachen, die Sonne nicht mehr scheint!" flüsterte er kaum hörbar. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Ohne darüber nachzudenken. Als er dies bemerkte, riss er für einen Moment seine Augen auf. Ließ mich los und verließ das Zimmer. Knallte die Tür hinter sich zu. Weil deine Augen, wenn du gehst, die Farbe mitnehmen und ohne dein Lachen, die Sonne nicht scheint. Immer und immer wieder hallten diese Worte in meinem Kopf. Weil deine Augen, wenn du gehst, die Farbe mitnehmen und ohne dein Lachen, die Sonne nicht scheint. Wie ein Mantra wurde es wiederholt. Wie in einer Endlosschleife. Weil deine Augen, wenn du gehst, die Farbe mitnehmen und ohne dein Lachen, die Sonne nicht scheint. Es dauerte. Es dauerte lange, bis ich sie Begriff. Bis ich die Bedeutung verstand. Verstand, was diese Worte sagen wollten. Ich merkte selber, wie mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Spürte, wie ich innerlich zusammensackte. Spürte, wie sich mein Herz schmerzlich zusammenzog.

„Er hat Recht, Josie" flüsterte nun Carl und legte von hinten seine Arme sanft um mich. Drückte mich an sich. Legte sein Kinn auf meine Schulter. „Du fehlst. Du fehlst uns allen. In so vielen Dingen. Es ist so still geworden. So bedrückend still. Eine ängstliche Stille. Man hört kein Lachen mehr. Man hört niemanden mehr reden. Man hört niemanden mehr tuscheln. Die Sonne scheint und doch ist es die ganze Zeit dunkel. Du bist da. Du bist die ganze Zeit bei mir. Und doch bist du so weit weg. So unerreichbar weit weg. Und ich habe Angst. Angst dich zu verlieren. Schreckliche Angst. Ich brauche dich doch. Wir brauchen dich. Daryl braucht dich. Ich glaube, er hat seitdem nicht einmal das Haus verlassen. Josie... Bitte komm zurück...Zurück zu uns...Zurück zu mir..." flüsterte er mir leise ins Ohr und bei jedem Wort liefen mehr Tränen meinerseits. Es war, als wäre ich aus einem Traum aufgewacht. Aus einem schrecklichen Alptraum. Ich wollte doch nicht, dass sie sich solche Sorgen um mich machen. Ich wollte doch nicht, dass sie solche Angst haben. Ich lehnte meinen Kopf an seinen. Ich legte meine Arme um seine. Drückte ihn fest an mich. Und zum ersten Mal seit Tagen spürte ich in mir wieder etwas Wärme.

Joseline - Mein Weg (TWD, Sunrise Avenue, Daryl Dixon FF) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt