73. Füreinander. Miteinander.

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Schluckend starrte ich die Wand an. Wie kam er jetzt darauf? Ich hatte darüber mit niemandem gesprochen. Noch nicht mal mit Samu oder einen der anderen Jungs. Ich wollte darüber nicht reden. Ich wollte es einfach nur vergessen. Vergessen und so tun, als wäre es nie passiert. Ich wusste, dass das der falsche Weg war. Doch für mich war es zur Zeit der einfachste Weg, damit umzugehen. Zumindest, solange mich niemand darauf ansprach. Aber war ich jetzt schon bereit, darüber zu reden? Mich zu öffnen? Jemand anderen an den schrecklichen Erinnerungen teilhaben zu lassen? Das war nichts, was man einem Jugendlichen erzählen sollte.

„Josie...bitte..." flehte er mich leise an. Konnte seinen Blick auf mich spüren, doch ich erwiderte ihn nicht. Starrte hilflos und überfordert weiterhin die weiße Wand an. Erinnerungen. Sie kamen alle wieder hoch. Wut und Angst. Das Gefühl, sich beschmutzt, benutzt und dreckig zu fühlen. Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Ließ sich alle Härchen aufstellen.

Langsam ließ ich meinen Blick zu ihm wandern. Sah ihm in seine verweinten Augen. Flehend schaute er mich an. Bittend. Verzweifelt. Sollte ich es tun? War das richtig? Ihn damit zu belasten? Aber vielleicht würde er sich dann auch öffnen? Mir erzählen, was ihn so sehr bedrückt.

Leise und zögerlich fing ich an, ihm davon zu erzählen. Musste mich zwischendurch selber mehrmals unterbrechen. Tränen flossen immer wieder. Die Bilder im Kopf sind so real, als würde ich es noch einmal erleben. Als würde ich es noch einmal durchmachen. Schweigend hörte er mir zu. Hielt mich fest im Arm. Tröstete mich. Strich mir beruhigend über den Rücken. Spürte, wie er immer wieder heftig schlucken musste. Wie er seine Hände zu Fäusten ballte. Wie er vor Wut zu zittern anfing, doch er unterbrach mich kein einziges Mal. Ließ mich ausreden und war einfach da. Und es wurde mit jedem Wort ein wenig einfacher. Es wurde leichter um mein Herz. Als wäre mir eine unendliche Last abgenommen worden. Es tat gut, darüber zu reden. Es fiel mir wahnsinnig schwer und holte die Erinnerungen zurück. Doch es tat trotz allem gut. Ich beendete meine Erzählung und lehnte meinen Kopf erschöpft auf seine Schulter.

„Ich habe es geahnt..." flüsterte er leise. Erstaunt und fragend sah ich ihn an. „Sein Blick... Wie er dich ansah... Diese Gier...". Woher konnte Carl den Blick von Gaston deuten? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er diesen Blick schon einmal bei jemanden gesehen haben könnte. Plötzlich kam mir ein Verdacht. Ein schrecklicher Verdacht. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

„Hat er dich so angesehen?" fragte ich leise und drückte ihn fest an mich. Nickend verbarg er sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Wie konnte ich nur so blind gewesen sein? So verdammt blind. Ich hätte es erkennen müssen. Gaston war ein verdammtes Arschloch. Ein mieser Wichser. Doch wer hätte ahnen können, dass er sich an Kinder und Jugendliche verging...

„Erzähle mir davon. Ich weiß, es ist sehr schwer und tut unendlich weh. Es lässt alles wieder aufleben. Doch es wird dir helfen. So, wie es mir hilft" flüsterte ich leise und lehnte mich mit dem Rücken an das Bettgestell. Zog ihn dabei mit und hielt ihn fest im Arm. Streichelte ihm abwechselnd über seinen Rücken und durch seine Haare.

Zögerlich fing er an zu erzählen. Erzählte, wie Gaston sich gewaltsam genommen hatte, was er wollte. Wie er sich immer und immer wieder brutal an ihm verging. Wie Carl sich am Anfang noch dagegen gewehrt hat, doch es dadurch nur noch schlimmer wurde. Wie er es dann irgendwann nur noch über sich ergehen lassen hat. Wie er immer und immer wieder brutal zusammengeschlagen wurde. Von Gaston selber, aber auch von den anderen. Wie er vor Schmerzen jedes Mal dachte, er würde sterben. Dass er kaum noch laufen konnte. Wie Gaston drohte, sich seine Familie zu holen und diese vor seinen Augen töten würde, wenn er nicht das tat, was von ihm verlangt wird. Tag und Nacht musste er zur Verfügung stehen. Wurde nachts brutal aus dem Schlaf gerissen, wenn Gaston das Verlangen nach ihm hatte. Wie er nur noch sterben wollte. Mehrmals versucht hat, sich das Leben zu nehmen und von da an keine Sekunde mehr alleine gelassen wurde. Selbst beim Duschen war jemand anwesend. Er kaum noch Berührungen zulassen kann. Wie dann sofort die schrecklichen Bilder wieder da sind. Dieses hilflose Gefühl, jemanden ausgeliefert zu sein.

„Doch bei dir war es anders. Als wir damals mit Gaston gegessen hatten. Du hast dich für mich geopfert. Obwohl ich dich bat, es nicht zu tun. Ich sah es an seinem Blick. Ich sah es in deinem Blick. Du wusstest, was er tun würde und doch hast du diesen Deal mit ihm gemacht. Hast dich danach so lieb um Judith und mich gekümmert. Wirktest die ganze Zeit so stark. Ich wusste, du würdest mich verstehen. Weil du das selbe durchgemacht hast. Weil du weißt, wie ich mich fühle. Ich wusste, du würdest mich verstehen, ohne dass ich dir irgendetwas erklären muss. Ich wusste, du würdest keine Fragen stellen. Ich wusste, du würdest mich nicht bedrängen. Ich wusste, du würdest mir nie etwas tun. Ich wusste, du würdest mir nie wehtun. Und so war es dann auch. So ist es immer noch. Ich fühle mich bei dir so unglaublich sicher und beschützt. Nur bei dir kann ich mich fallen lassen. Kann ich so sein, wie ich gerade bin" beendete er leise seine Erzählung und verbarg sein Gesicht in meiner Halsbeuge.

„Und daran wird sich niemals etwas ändern" hauchte ich ihm leise zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Die ganze Nacht haben wir noch geredet. Zusammen geweint und uns gegenseitig festgehalten. Haben unser ganzes Herz ausgeschüttet und unsere Seelen von sämtlichen Lasten befreit. Haben uns gegenseitig geschworen, nun immer offen miteinander zu reden, sollte dem anderen etwas belasten. Egal, worum es geht. Haben festgestellt, dass wir auch mit den anderen reden müssen. Mit Daryl und Rick. Mit Samu und Michonne. Sie sollten es wissen. Sie müssen es wissen. Sie werden Verständnis haben. Sie werden es verstehen. Sie werden uns verstehen. Wir wollen es ihnen zusammen sagen. Keiner muss da alleine durch. Wir mussten beide lernen, damit zu leben. Wir müssen es verarbeiten. Wir, vor allem Carl, musste wieder lernen, dass ihm hier niemand etwas tun wird. Dass er hier in Sicherheit ist. Das Berührungen nichts Schlimmes sind. Dass sie etwas Schönes sein können. Wir werden es schaffen. Das weiß ich einfach.

Erst am frühen Morgen sind wir erschöpft eingeschlafen. Immer wieder haben uns Alpträume aufschrecken lassen, doch wir waren da. 

Füreinander. 

Miteinander. 

Tief im Herzen verbunden.


Joseline - Mein Weg (TWD, Sunrise Avenue, Daryl Dixon FF) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt