59. Kapitel

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Kendra stützte sich mit den Armen auf dem Krankenhausbett ihrer Mutter ab. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über den dünnen Körper hoch zu dem Gesicht mit den eingefallenen Wangen gleiten.

Rebekka mochte sich in dem weißen, sterilen und unpersönlich wirkenden Krankenhauszimmer unwohl fühlen, aber auf Kendra hatten die gleichmäßigen Atemgeräusche des Beatmungsgerätes eine beruhigende Wirkung.

Es hörte sich an, wie wenn man beim Tauchen atmete und tauchen hatte Kendra schon immer geliebt, auch wenn sie nur einmal im Jahr, in den Sommerferien, mit ihrer Familie ans Meer gefahren war.

Es war etwas gewesen, das sie mit Mark verband – eines der wenigen Dinge. Sie dachte gerne an die Ausflüge mit ihrem Bruder und ihrem Vater zurück, wenn sie bunte Korallenriffe erkundet und ihnen unbekannte Meerestiere entdeckt hatten.

Diese Momente hatten nur ihnen gehört – und wie alles Schöne hatten sie irgendwann aufgehört zu existieren.

Sanft begann Kendra die Hand ihrer Mutter zu streicheln. „Wenn du wüsstest, was passiert ist, Mom."

Tränen stiegen in ihre Augen, als sie die Nacht in Houston mit Landon dachte. „Ich habe etwas Furchtbares getan und ich wünschte mir einfach, ich könnte die Zeit zurück drehen und alles rückgängig machen."

Es tat gut, mit jemandem zu reden, der nicht antworten konnte, so makaber das klang. Sie wollte einfach nicht noch mehr gut gemeinte Ratschläge hören, die ihr doch nicht halfen. Sie wollte nicht das mühsam versteckte Unverständnis, das Mitleid und die stumme Verurteilung in den Augen ihrer Familie und Freunde sehen.

Um ehrlich zu sein, wollte sie gerade einfach nur im Selbstmitleid ertrinken und erst wieder auftauchen, wenn Weihnachten vorbei war und sie so darum herum gekommen war, Landon zu sehen, den ihr Dad wie selbstverständlich und wie zu jeder anderen Familienfeier eingeladen hatte. Er war bisher nie gekommen, aber sie hatte das Gefühl, dass es dieses Jahr anders sein könnte.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich ihm begegnen soll", flüsterte Kendra. „Er hat sich nicht bei mir gemeldet, nicht versucht mich anzurufen, ist mir nicht nachgekommen. Er kann nicht so viel zu tun haben, dass er seit Wochen keine Möglichkeit findet, Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich glaube, ich bin ihm einfach den Aufwand nicht wert."

Sie schluchzte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, doch das verteilte die Tränen nur auf ihren Wangen.

„Ich weiß nicht, wer ich für ihn bin oder was er für mich fühlt, ob da überhaupt etwas ist. Ich weiß nicht einmal, was ich für ihn fühle."

Als die Tür plötzlich geöffnet wurde, ohne dass jemand angeklopft hätte, blickte Kendra ruckartig auf.

„Maya sucht dich." Alles an Ryan strahlte Herablassung aus.

„Okay." Kendra nickte und wandte sich schnell ab, hoffend, dass Mayas Bruder ihre Tränen nicht gesehen hatte.

„Und ich soll dir - ..." Ryan unterbrach sich. Er kam auf sie zu und blickte sie spöttisch an. „Weinst du etwa?"

„Verschwinde, Ryan!", knurrte Kendra wütend und wischte sich die Tränen ab. „Was machst du hier überhaupt in Whitingham? Wolltest du nicht schon lange weg sein?"

„Ich arbeite."

„Als was? Callboy? Totengräber?"

„Du hast ja ein fantastisches Bild von mir", erwiderte Ryan sarkastisch. Dann griff er in seine Jackentasche und zog einen Briefumschlag heraus. „Hier. Der ist für dich."

„Von dir?", fragte Kendra irritiert.

Ryan schürzte verächtlich die Lippen. „Vergiss es." Er lehnte sich seitlich an die Wand, den Blick aufmerksam, beinahe prüfend auf sie gerichtet „Den hat Landon mir mitgegeben.

„Landon?"

Dass ihre Stimme viel zu hoch klang und ihre Frage viel zu schnell kam, bemerkte Ryan sofort, wie Kendra aus dem zynischen Lächeln, das über sein Gesicht zog, schloss.

Sie schenkte ihm einen vernichtenden Blick und griff rasch nach dem Brief, aber Ryan hielt ihn fest, so dass es nicht zu vermeiden war, dass ihre Fingerspitzen sich berührten. Aber Kendra hatte nicht die Absicht nachzugeben und loszulassen.

„Kenny, Kenny." Immer noch grinste Ryan spöttisch. „Ich kann es kaum glauben, dass du Landon mir vorgezogen hast."

Provokant, mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen, ließ er den Brief los und verschränkte die Arme.

Kendras Herz schien einen Moment auszusetzen. Wie hatte sie auch damit rechnen können, dass Landon seinem besten Freund nichts von ihrer gemeinsamen Nacht erzählt hatte?

„Er hat es dir erzählt", stellte sie beinahe tonlos fest. Sie ließ die Hand mit dem Brief sinken, als hätte Ryan ihr einen Stein gegeben.

Über sein Gesicht zog ein arrogantes Grinsen. „Und wie."

Kendra biss sich auf die Lippe, um nicht zu sehr zu zeigen, wie sehr seine Worte sie verletzten.

Doch er setzte noch eins oben drauf, indem er langsam, als würde er es genießen, sie zu quälen, hinzufügte: „Jedes schmutzige Detail."

Kendras Herz brach. Es setzte zum freien Fall an und riss ihren Magen mit in die bodenlose Tiefe. Ihr wurde übel.

„Ich bin wirklich gespannt, Kenny: Was hat Landon, was ich nicht habe?"

Kendras Augen brannten, als Ryan erneut in die blutende Wunde fasste, die die Nacht mit Landon in ihr hinterlassen hatte.

Sie musste sich zwingen, vor Ryan nicht klein beizugeben. Das hatte dieser eingebildete, arrogante Fiesling nicht verdient! Energisch straffte Kendra die Schultern.

„Im Gegensatz zu dir hat er ein Herz, Ryan! Und zugegebenermaßen sieht er um einiges besser aus, hat wenigstens Ansätze von Manieren, Ritterlichkeit und Romantik – und er hat in seinem Leben etwas erreicht." Oberflächliche Lügen.

Ryan lachte auf. „Ich bitte dich, Kenny, wir wissen doch beide, dass du dir das gerade ausgedacht hast."

„Denkst du?"

„Oh ja." Unbekümmert setzte Ryan sich auf die Kante des zweiten, freien Bettes des Zimmers. „Neben den Punkten, die wirklich auf Landon zutreffen, könnte ich dir noch mehr Erfahrung anbieten, als er." Ein anzügliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Deine Mutter hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns das freie Bett hier ausleihen." Er klopfte auf die Matratze, auf der er saß.

Kendra schnappte nach Luft. „Du arroganter - ..."

„Na na, Kenny, das ist aber nicht romantisch." Seine Augen funkelten. Ihm machte das ganze also Spaß.

Kendra hob das Kinn. „Wo finde ich Maya?"

„Ärztezimmer. Soll ich hier auf dich warten?"

Kendra ging nicht auf seine Bemerkung ein, als sie aufgebracht an ihm vorbei zur Tür lief.

„Hey, Kenny."

Genervt und bereit, ihm sämtliche Beleidigungen an den Kopf zu werfen, die ihr einfielen, blieb sie stehen und wandte sich noch einmal um. Aber Ryan blickte nicht sie an, sondern ihre Mutter.

„Sollte deine Mom nicht eigentlich im Koma liegen?"

„Ja, wieso?" Misstrauisch machte Kendra wieder einen Schritt ins Zimmer zurück.

„Sie hat sich gerade bewegt." Ryan deutete auf die Hand ihrer Mom, die in langsamen, unsicheren und suchenden Bewegungen über ihre Bettdecke fuhr.

„Mom!" Kendra lief an das Bett ihrer Mutter und griff nach deren Hand. „Alles ist gut, Mom." Tränen liefen über ihr Gesicht. „Ryan, hol einen Arzt!"

„Ich dachte, du bist Ärztin."

Kendra verkniff sich eine spitze Bemerkung. „Mach einfach!"

Ryan hob eine Augenbraue und rührte sich nicht.

Kendra verdrehte die Augen. „Bitte."

„Geht doch." Ryan verschwand auf dem Flur.

Kendra beugte sich über ihre Mutter. „Ich bin da, Mom, es ist alles gut. Ich bin da."

In dem Moment als Ryan mit Dr. Parker im Schlepptau ins Zimmer zurück kehrte, schlug Lucy O'Ryan zum ersten Mal seit sechs Wochen wieder die Augen auf.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt