78. Kapitel

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„Daniel?" Henry setzte sich in seinem Bett auf.

Es war dunkel und eigentlich hatten Daniel und er heute extra früher ins Bett gehen wollen, um nach der anstrengenden letzten Woche etwas mehr Schlaf zu bekommen, nachdem es ihm heute endlich ein wenig besser gegangen war.

Und obwohl Henry noch vor einer halben Stunde im Stehen hätte einschlafen können, konnte er jetzt einfach keine Ruhe finden. Zu sehr beschäftigten ihn die Gedanken der letzten drei Monate.

Damals, vor seinem Unfall... Er hätte den Abstecher nicht machen sollen, bevor er seine Eltern nach Hause bringen wollte – dann wäre das alles nicht passiert!
Oder wenn er wenigstens irgendwem Bescheid gesagt hätte, zu wem er fuhr!

Dann hätten sie ihn jetzt nicht in der Hand, dann wäre er jetzt nicht eine hilflose Marionette in ihrem kranken Spiel!

„Was ist denn los, Henry?", murmelte Daniel müde von seiner Matratze auf dem Boden aus.

Henry zögerte. „Ich muss dir etwas sagen." Angespannt wartete er auf die Reaktion seines Freundes.

Er hatte Angst, es zu sagen – wer wusste schon, wo das nächste paar Ohren lauerte, dass darauf wartete, ihn zu verraten – aber gleichzeitig wusste er, dass er mit diesem Geheimnis nicht weiterleben konnte.

„Ja?" Daniels Stimme klang schläfrig.

„Ich weiß, wer dafür verantwortlich ist, dass meine Eltern und ich Anfang November diesen Autounfall hatten", ließ er nach einigem Zögern die Bombe platzen.

Doch alles, was er hörte, waren Daniels gleichmäßige Atemzüge.

„Mist!", schimpfte er leise. Aber sein Freund hatte es verdient, endlich mal etwas länger zu schlafen, also beschloss er, ihn nicht deswegen aufzuwecken.
Morgen war auch noch ein Tag.

Wobei er nicht wusste, ob er sich trauen würde, Daniel dabei ins Gesicht zu sehen, wenn er ihm erzählte, was er die letzten Monate verheimlicht hatte. Die Dunkelheit wäre der perfekte Deckmantel gewesen.

Die nächste Stunde versuchte er verzweifelt, einzuschlafen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Das Wissen, dass Daniel schon lange schlief, machte ihm das Ganze ebenso wenig leichter, wie das Rasen seines Herzens, das einfach nicht zur Ruhe kommen wollte.

Irgendwann stand er schließlich auf und tappte in die Küche. Dabei überraschte ihn, dass Daniel trotz seines sonst eher leichten Schlafes nicht aufwachte. Aber umso besser für seinen Freund. Henry wollte ja sowieso nur schnell etwas trinken.

Seit Beginn seines Entzugs vor sechs Tagen war heute die Nacht, in der es ihm körperlich am besten ging. Die einzigen Beschwerden, die er wahrnahm, waren das Herzrasen und das starke Schwitzen, die jedoch beide schön länger seine treuen Begleiter waren.

Dankbar sah Henry, dass Daniel ihm ein Glas mit salzigem Zitronenwasser bereitgestellt hatte, bevor er ins Bett gegangen war.

Er hielt sich die Nase zu und trank das Glas in wenigen Zügen aus. An den Geschmack würde er sich nie gewöhnen. Aber wenn Daniel meinte, das würde helfen...

Erleichtert stellte Henry fest, dass sich langsam die Müdigkeit wieder bemerkbar machte und machte sich gerade auf den Rückweg ins Schlafzimmer, als plötzlich seines Beinmuskulatur zu krampfen begann.

Das war nichts Ungewöhnliches während eines Entzugs, hatte Daniel ihm erklärt, also machte Henry sich humpelnd auf den Weg ins Bad, um eine krampflösende Salbe zu holen. Er beschloss, seinen Freund deswegen ncht aufzuwecken, auch wenn Daniel ihm aufgetragen hatte, ihn jedes Mal zu wecken, sollte er nicht schlafen können oder sonst irgendwelche Beschwerden haben.

Er trug die Salbe auf und stellte sie dann wieder in den Schrank zurück. Bevor er jedoch das Bad verließ, tastete er routinemäßig in dem Spalt zwischen Schrank und Wand, seinem ehemaligen Tablettenversteck, das Daniel jedoch ausgeräumt hatte.

Obwohl er das wusste, sah Henry jedes Mal nach, ob nicht doch noch etwas dort war... irgendetwas, was ihm den Entzug erleichtern könnte.

Er wollte ja nicht wieder süchtig werden, aber ein bisschen Unterstützung könnte schon hilfreich sein.

Denn so ein kalter Entzug war härter, als er bis jetzt immer gedacht hatte. Sein Körper wurde täglich an die absolute Grenze gebracht und er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder Ruhe vor den Schmerzen zu haben.

Überrascht hob Henry die Augenbrauen, als seine Fingerspitzen tatsächlich eine ihm nur allzu bekannte Papierschachtel ertasteten. Vorsichtig fingerte er sie aus dem Spalt heraus und blickte ungläubig auf die Codein-Packung.

Er war doch dabei gewesen, als Daniel alle seine Tabletten-Verstecke ausgeräumt hatte! Und wie oft hatte er in den letzten Tagen nachgeschaut und nichts in dem Spalt gefunden! Wo kam jetzt die Packung her?

Mit zitternden Händen öffnete er sie und drückte zwei Tabletten aus dem Blister.

Er konnte sich den Entzug doch ein bisschen erleichtern, oder? Es wäre ja nur einmal, dann würde er Daniel davon erzählen, dass er diese Packung gefunden hatte...

Sein Magen krampfte sich zusammen, als er sich bereits Daniels prüfenden Blick vorstellen konnte, wenn der ihn fragen würde, ob er etwas von dem Codein genommen hatte. Dann müsste er lügen. Also würde er besser doch nichts sagen, beschloss er. Einfach die Packung da lassen und aus seinen Gedanken verbannen.

Henry spürte, wie sein ganzer Körper förmlich nach dem Codein schrie. Erneut brach ihm der Schweiß aus. Er fuhr sich über die Stirn und starrte auf die Tabletten in seiner Hand.

Tu es einfach, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Kopf.

Es würde so vieles leichter machen... Er hob die Hand zum Mund.

Henry!

Henry blickte verwirrt auf und ließ seine Hand sinken. Fing er jetzt schon wieder an zu halluzinieren? Daniel meinte doch, die Phase dürfte er jetzt hinter sich haben...?

Aber die Stimme war ihm so real vorgekommen, als wäre jemand mit ihm hier im Zimmer. Er schüttelte sich und hob erneut seine Hand an, als er schon wieder unterbrochen wurde.

Henry, was tust du da?

Erst jetzt erkannte Henry die Stimme seines Herrn – Gottes.

„Ich will es mir nur ein bisschen angenehmer mache. Ich werde von der winzigen Menge bestimmt nicht wieder süchtig werden!", rechtfertigte Henry sich laut.

Überleg dir das gut, denn das kannst du nicht wieder rückgängig machen. Du würdest alles wegwerfen, was du in den letzten sechs Tagen geschafft hast.

„Das ist doch Schwachsinn!", erwiderte Henry mit einer Mischung aus Wut und Trotz in seiner Stimme.

Willst du wirklich an den Anfang zurück? Du bist ein Kämpfer, Henry, also kämpfe!

Henry starrte auf die Tabletten in seiner Hand. Ich kann das nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Ich kann das nicht wegschmeißen, nicht loslassen. Es geht nicht! Ich brauche das jetzt! „Hilfe, Jesus!", stieß Henry zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Seine linke Hand verkrampfte sich um die Codein-Packung, während seine rechte scheinbar wie von selbst immer weiter in Richtung seines Mundes wanderte. Er konnte seinen Blick nicht von den beiden weißen, ovalen Tabletten lösen. Es waren nur zwei Stück. Das würde schon nicht schaden, oder?

Und was wäre, wenn er mehr nähme?

Ein für alle Mal den Schmerzen entkäme?

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt