84. Kapitel

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Kate schlüpfte als erstes in den Wandschrank, in dem neben Lynns vielen Kleidungsstücken eigentlich nur Platz für anderthalb Personen war, und nicht für zwei - nein, eigentlich drei. Aber ihr Kind konnte man da noch nicht wirklich mitrechnen.

Als Henry sich neben sie setzte und dann auch noch die Türen schloss, sodass es um sie herum dunkel wurde, kam ihr der Raum noch viel kleiner vor als sie ihn von den unzähligen Malen, die Lynn und sie gemeinsam Outfits für die Dates ihrer Freundin mit Nico herausgesucht hatte, in Erinnerung hatte.

Kate rutschte noch näher an die Wand und tatsächlich gelang es ihr mit nahe angezogenen Beinen und wenn sie sich so klein wie möglich machte, jeden Körperkontakt zu Henry im Keim zu ersticken.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte, ob er wollte, dass sie irgendetwas sagte, oder ob sie lieber schweigen sollte. Sie wusste nur, was sie nicht tun würde - was immerhin schon die Hälfte der Miete war, ihr in der Situation aber leider nicht wirklich weiterhalf.

„Es tut mir leid, dass ich nicht pünktlich beim Café war, Kate", sagte Henry leise und nahm ihr damit die Entscheidung ab, ob sie reden würden oder nicht.

Kate blickte auf. Ihre Augen, die sich langsam an die Dunkelheit im Schrank gewöhnten, kreuzten Henrys Blick und die Ehrlichkeit, die sie darin zu erkennen meinte, traf sie. „Ich habe über eine halbe Stunde gewartet. Ich kam mir ziemlich dumm vor."

„Tut mir leid", wiederholte Henry.

Kate fiel auf, dass seine Augen zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr ständig unruhig hin und her huschten, sondern sein Blick ruhig und aufmerksam auf ihr lag. „Wer war das?", fragte sie, um von sich abzulenken und deutete auf sein Gesicht. Ihn so zu sehen hatte ihr wehgetan.

Sie schluckte und war auf einmal froh über die Dunkelheit, die hoffentlich nicht allzu viel von dem verraten würde, was sie dachte - denn das konnte Henry manchmal viel zu leicht aus ihren Augen ablesen.

Sie rang mit sich. Einerseits wollte sie ihm zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte und dass es sie noch immer schmerzte, was er ihr angetan hatte, sodass sie nicht wusste, wie sie ihm vergeben sollte. Andererseits wollte sie gerade einfach nur umarmt werden, denn es zerriss ihr fast das Her, ihn so zu sehen.

„Vik."

„Vik?" Fragend blickte sie ihn an.

„Ein Freund von Lary." Henry änderte seine Position und plötzlich berührte sein Bein ihres. Noch im Oktober wäre das ganz und gar nichts Ungewöhnliches oder gar Unangenehmes gewesen, aber jetzt begann ihr Bein zu kribbeln, als würde ihr jemand eine Dusche aus lauter kleinen Blitzen verpassen.

Es war ein wenig wie damals, als sie sich in ihn verliebt hatte, langsam begonnen hatte, seine sanften Berührungen zuzulassen und genau wie damals war sie sich nicht sicher, ob sie das Gefühl angenehm finden sollte oder nicht.

Angemessen war es auf jeden Fall nicht.

Kate zog ihre Beine noch enger an ihren Körper und unterbrach so den Körperkontakt wieder - etwas, was Henry zweifelsohne mitbekommen hatte.

Jetzt saß sie außerdem recht eingeengt. Der Bauch machte sich eben doch ein wenig bemerkbar, dachte sie und ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie an das Wunder des Lebens dachte, dass in ihr heranwuchs.

„Was genau hat Lary mit dem allem zu tun, Henry?", stellte sie die erstbeste Frage, die ihr einfiel, damit er nicht darauf eingehen konnte, dass sie ihn nicht berühren wollte.

Sie beschäftigte der Gedanke, seit Henry gesagt hatte, dass Lary in irgendetwas Kriminellem drin steckte. Das alleine war schon unrealistisch, war Lary doch ihre Freundin.

Sie hätte davon gewusst, wenn in Larys Leben irgendetwas so gravierend schiefgelaufen wäre. „Wo hängt sie mit drin? Und vor allem: Was hast du mit dem allem zu tun, Henry?"

Der Vorwurf, der in ihrer Stimme mitschwang, war so nicht gewollt gewesen.

Henry seufzte. „Es geht um dieses Drogenkartell, gegen das Mark und Josh schon seit Oktober ermitteln."

Kate kniff die Augen zusammen. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass es keine gute Idee war, wenn Henry seinem Bruder bei dessen Ermittlungen half. Und jetzt hatten sie den Salat: eine Freundin wollte sie beide umbringen lassen.

„Hör zu, Katy, ich werde dir alles erzählen, wirklich, aber ich glaube nicht, dass das jetzt der richtige Ort dafür ist. Larys Leute dürfen uns nicht hören, sollten sie vor Mark und Josh kommen."

Kate zuckte scheinbar gleichgültig die Schultern, doch in Wirklichkeit wurmte es sie, so unwissend zu sein.

Aber wie er es gewünscht hatte, schwieg sie - was ihr gar nicht leicht fiel, als Henry absichtlich-unabsichtlich ihre Hand streifte. Was bildete er sich bloß ein? Erinnerte er sich nicht mehr an die vergangenen Wochen?

„Sorry", flüsterte er in dem Moment leise.

Okay, anscheinend war es doch keine Absicht gewesen. Sie wurde noch paranoid!

In diesem Moment klingelte es unten an der Haustür, ein Geräusch, das sie vermutlich gar nicht mitbekommen hätten, hätten sie geredet.

Erschrocken schaute Kate Henry an. Irgendwie war er doch der erste, an den sie sich wandte, wenn sie Angst hatte - selbst jetzt noch. Als sie seinem Blick begegnete, wusste sie instinktiv, was er tun würde. „Henry..."

„Kate, hör mir zu."

Wie oft er das heute schon gesagt hatte... Und wann würde er ihr mal wieder zuhören?

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und blickte sie ernst an. „Lary und ihre Leute würden nicht klingeln. Das werden Mark und Josh sein."

Kate biss sich auf die Lippe. „Dann komme ich mit."

„Nein, tust du nicht! Ich will nicht, dass dir etwas passiert!"

„Aber..." Kate runzelte die Stirn. Wenn er doch sagte, dass Mark und Josh unten waren...?

„Egal, was passiert, du bleibst hier, Kate. Versprich mir das."

Kate konnte in seinen Augen die Sorge um sich erkennen. Sie verstand nicht, wieso genau er sie hierließ, wenn er sich doch sicher war, dass es nicht Larys Leute waren, aber ein winzig kleiner Teil von ihr vertraute ihm noch immer blind.
Der große Rest wollte ihr ungeborenes Kind schützen.

„In Ordnung. Ich verspreche es."

„Danke." Henry atmete erleichtert auf.

Kate hatte kein gutes Gefühl dabei, als er die Schranktüren nach außen aufstieß. „Es wird alles gut, Kate, keine Angst. Ich würde niemals zulassen, dass sie dir etwas tun!"

Henry gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Es war nur eine winzige Geste, doch sie trieb ihr die Tränen in die Augen, weil sie merkte, dass sie am liebsten zurückgewichen wäre. Sie konnte seine Berührungen nicht aushalten. Zu sehr hatte ihr Herz die letzten Monate gelitten.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt