68. Kapitel

61 12 5
                                    

Henry blickte sich mehrfach um, bevor er von der Hauptstraße abbog und damit das als Problemviertel bekannte Gebiet betrat.

Die Straße war wie leer gefegt, die meisten Häuser standen leer. Die Jalousien waren heruntergezogen oder Fenstergläser eingeschlagen, Müll stapelte sich vor Haustüren und ein unangenehmer Geruch lag über der ganzen Straße.

Das war also die Gegend, in der er sich jetzt immer öfter umhertreiben würde. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Punkt 17:00 Uhr.

Henry atmete tief durch, dann trat er auf eines der alten, verfallenen Gebäude zu. Es gab keine Klingel, also klopfte er an die Tür aus morschem Holz.

Unfassbar, dass es in Whitingham eine solche Gegend gab, in der noch Menschen lebten. Das wünschte er niemandem, doch vor allem war er froh, selbst nicht hier wohnen zu müssen.

Als niemand öffnete, klopfte er erneut. Egal an wen, aber er musste genügend Stoff loswerden, hatte Ash ihm gesagt. Über die Weihnachtszeit würden die Menschen besonders sentimental werden, und wenn sie niemanden hätten, würden sie leicht zu Drogen greifen.

Er hoffte, dass er den Stoff möglichst schnell loswerden würde, obwohl Weihnachten bereits hinter ihnen lag.

Endlich wurde die Tür geöffnet. Vor ihm stand eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm. Ihre Haare hingen strähnig auf ihre Schultern, ihr Körper war ausgemergelt und auch das Kind zeigte Zeichen von Verwahrlosung.

Henry erschrak, als er die beiden sah. Sein erster Impuls war, ihr anzubieten, sie ins Krankenhaus zu bringen oder ihnen wenigstens etwas zu essen zu kaufen und sie zu untersuchen.

Doch dann erinnerte er sich an einen weiteren Tipp, den Ash ihm gegeben hatte: Nichts sagen, nichts fragen, nur verkaufen.

Wortlos hielt Henry ein kleines durchsichtiges Tütchen hoch.

„Sie sind der Neue?" Misstrauisch blickte die Frau ihn an.

Er nickte. „Ash schickt mich." Hätte er irgendeine Parole wissen sollen? Hoffentlich nicht.

„Na gut." Abschätzig blickte sie ihn an, dann wandte sie sich um und rief ins Haus hinein: „Alyssa! Das Geld!"

Drinnen regte sich etwas. Henry wippte ungeduldig auf seinen Füßen vor und zurück und blickte auf den Boden, um die junge Frau nicht ansehen zu müssen.

„Hier."

Beim Klang der dünnen, hohen Stimme hob Henry den Kopf.

Neben die junge Frau war ein kleines Mädchen von etwa sechs oder sieben Jahren getreten, die der Mutter einige Geldscheine reichte.

„Gib es ihm." Die Frau wies mit dem Kinn auf ihn.

Henry trat automatisch einen Schritt zurück. Als Ash ihn zu diesem Job überredet hatte, hatte er gedacht, er würde Drogen an irgendwelche Junkies ausliefern, die ihr Leben schon gelebt hatten und jetzt nichts mehr mit sich anzufangen wussten.

Aber das hier war eine junge Mutter mit zwei Kindern, die trotzdem keinerlei Perspektive in diesem Viertel hatten.

Das Mädchen, Alyssa, trat auf ihn zu und reichte ihm das Geld. Sie hielt den Blick auf den Boden geheftet und blieb so weit wie möglich von ihm entfernt in einer Haltung stehen, als erwarte sie Schläge.

Was hatten ihr die vorherigen Verkäufer oder auch andere Männer angetan, nur weil ihre Mutter sie vorschickte?
Er wollte es nicht wissen.

Henry nahm die Geldscheine, zählte durch und reichte dem Mädchen die entsprechende Anzahl der kleinen Tütchen. Er hoffte, dass die Frau das nicht alles selbst konsumieren würde, sonst würden hier bald nur noch zwei Waisen leben.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt