90. Kapitel

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„Mikey?" Kate legte eine Hand auf die Schulter desschlafenden Jungen und rüttelte ihn sanft. „Mikey, wach auf."

Mikey blinzelte und blickte sie verwirrt an. Er schien einen Moment zu brauchen, bis er sie erkannte. „Doc?"

Er wollte sich aufrichten, aber Kate hielt ihn zurück. „Bleib liegen."

„Wie spät...?"

„Schscht", machte sie und hielt ihren Finger vor die Lippen. „Nicht so laut." Sie wandte sich zu Josh um, um sicher zu gehen, dass er noch immer in der Tür stand.

„Wer ist das?", flüsterte Mikey, deutlich leiser als vorher.

„Ein Freund. Josh."

„Hi, Josh."

Kate musste sich ein Lachen verkneifen, als Mikey den Agenten ansprach, als würden sie sich in einer völlig alltäglichen Situation befinden.

„Hallo, Mikey", antwortete Josh gelassen und hob eine Hand zum Gruß.

„Mikey", lenkte Kate die Aufmerksamkeit des Jungen wieder auf sich. „Ich muss dir etwas sagen."

„Wieso mitten in der Nacht? Ist etwas mit Dad?"

„Nein, ihm geht es gut." Ehrlich gesagt wusste sie nicht, wie es Brian Williams ging, aber ihre Worte beruhigten Mikey und erfüllten damit ihren Zweck. „Ich werde dir ein Geheimnis erzählen, in Ordnung?"

„Wie spannend!" Spätestens jetzt war Mikey hellwach. Er setzte sich nun doch auf und blickte Kate erwartungsvoll an. „Worum geht es, Doc?"

„Du musst mir zuerst versprechen, dass du niemandem davon erzählst. Allerhöchstens Ryder."

Mikey nickte eifrig. „Gigantisches Ehrenwort."

„Gut. Hör zu, Mikey. Ich werde eine Zeit lang nicht mehr herkommen können."

„Was? Wieso das?" Überrascht riss er die Augen auf.

„Ich mache ein bisschen spontanen Urlaub. Aber ich wollte nicht gehen, ohne mich von dir zu verabschieden."

„Wann kommen Sie denn wieder, Doc?"

Kate zögerte. „Das weiß ich noch nicht. Vielleicht in einer Woche, vielleicht auch erst in zwei oder drei."

„Aber, Doc?"

„Was ist denn?", fragte sie sanft.

„Zum Super Bowl sind Sie doch wieder da, oder? Sie haben doch gesagt, dass wir das Spiel zusammen gucken!"

Kate biss sich auf die Lippe. Es stimmte, das hatte sie Mikey versprochen und sie wusste, dass es dem Jungen unglaublich wichtig war, das Spiel mit ihr zusammen zu sein. Sie war im Augenblick die einzige Konstante in seinem Leben.

„Doc? Sie werden da sein?"

Kate wechselte einen Blick mit Josh, der hilflos die Schultern zuckte. „Ich weiß es nicht, Jersey, tut mir leid."

„Aber Sie haben es versprochen! Bitte, Doc! Das erste Mal seit ich denken kann, haben die Giants echte Chancen, den Super Bowl zu gewinnen. Ich will das nicht ohne Sie erleben!"

Vorausgesetzt, dass er das überhaupt erleben würde.... Mikeys Heilungschancen standen nicht allzu gut, sodass sie jederzeit mit dem schlimmsten rechnen mussten. Umso schmerzlicher traf Kate seine flehentliche Bitte.

Seine dunkel umrandeten, weit aufgerissenen Augen bildeten auch im Dunkeln einen zu starken Kontrast zu seinem blassen, kindlichen Gesicht.

Als ihr erneut präsent wurde, dass sie ihn gerade womöglich zum letzten Mal sah, kamen ihr die Tränen und sie konnte nicht anders, als zu nicken.

„In Ordnung, Jersey, ich verspreche es. Ich werde zum Spiel da sein. Wir werden zusammen sehen, wie die Giants gewinnen." Sie stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Werd für mich gesund, ja?"

„Ich geb mein Bestes", antwortete Mikey ernst, aber Kate hatte trotzdem das Gefühl, dass er die Tragweite seiner gesundheitlichen Situation nicht voll erfasste.

Nachdem sie entdeckt hatten, dass er einen Rückfall hatte, hatten sie mit der Therapie von vorne beginnen müssen, doch die Chemotherapeutika schlugen diesmal deutlich weniger an.

So wenig, dass sie begonnen hatten, intensiv nach einem Stammzellspender zu suchen. Sein Vater kam aufgrund strenger Haftbestimmungen nicht in Frage und die Mutter hatten Kate und Ryder in den letzten beiden Tagen vergeblich zu erreichen versucht.

Es sah also sehr viel weniger gut aus, als Mikey zu glauben schien. Bei einem Rückfall zu so einem frühen Zeitpunkt der Therapie standen die Heilungschancen äußerst schlecht.

„Kate?" Josh gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie zum Ende kommen sollte.

Kate blickte Mikey noch einmal an und war sich der Tatsache, dass dies ein Abschied auf unbestimmte Zeit war, nur zu deutlich bewusst. Möglicherweise ein Abschied für immer.

„Ich hab dich lieb, Jersey", flüsterte sie.

Mikey blickte sie etwas verwundert an, aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort. Sie wollte ihm keine Angst machen, also versuchte sie das, was sie unbedingt noch sagen wollte, in leichtere Worte zu verpacken.

„Denk dran, Jesus liebt dich und ist immer bei dir, egal, was passiert." Sie rang sich ein Lächeln ab und hoffte, dass der Junge im Dunkeln nicht sehen konnte, dass ihr die Tränen in den Augen standen.

„Wir sehen uns, Doc." Mikey hob die Hand zum Abschied.

„Ja", rang sich Kate mit erstickter Stimme ab. „Bis in ein paar Tagen. Und jetzt schlaf noch ein bisschen, ja? Und werd mir schön gesund!"

„Versprochen."

So aufgedreht wie er jetzt war, würde er ewig brauchen, bis er wieder eingeschlafen war, aber sie hatte keine Zeit mehr, ihn zu beruhige, denn Josh trat hinter sie, legte eine Hand auf ihren Rücken und mahnte: „Kate, wir müssen wirklich los."

„In Ordnung."

Kate schenkte Mikey ein letztes Lächeln, dann verließ sie hinter Josh den Raum und zog mit einem seltsam endgültigen Gefühl die Tür hinter sich zu.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt