55. Kapitel

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Henry schlug die Augen langsam auf. Das erste, was er realisierte, war, dass er auf einem Bett lag. Einem Krankenbett.

„Da ist er ja wieder", hörte er Lynns sarkastische Stimme, bevor ihr Gesicht in seinem Sichtfeld auftauchte. „Schwester, holen Sie seine Sachen."

Lynn wandte sich zum Gehen, aber mit einer Schnelligkeit, die Henry sich selbst nicht zugetraut hätte, streckte er die Hand aus und hielt sie am Arm zurück.

„Was ist, Henry?" Kühl blickte Lynn ihn an.

Henry schaute sich um jetzt erst realisierte, dass er sich einem der Behandlungsräumeder Notaufnahme befand. Als Patient.

„Was –... was ist passiert?"

Er runzelte die Stirn, als er merkte, dass er sich an die letzten Stunden nicht erinnern konnte. Er hatte keine Ahnung, wie er hier hergekommen war.

Lynn zog sich einen Hocker heran und setzte sich an sein Bett. Warum nur behielt sie diesen distanzierten Gesichtsausdruck bei? War sie sauer auf ihn?

„Henry, du bist hier, um deinen Rausch auszuschlafen. Du bist heute Vormittag betrunken in ein Polizeirevier marschiert."

„Was?" Entsetzt richtete Henry sich auf, doch sofort bereute er diese Bewegung, als ein bohrender Kopfschmerz einsetzte. Mit einem Stöhnen sank er wieder in sein Kissen zurück.

„Ich würde dir ja Schmerztabletten verschreiben, aber ich gehe mal davon aus, dass du noch genügend Zuhause hast." Ein zynisches Lächeln zuckte über Lynns Lippen.

Henrys Antwort war ein erneutes Stöhnen. Er konnte doch die wenigen, wertvollen Tabletten, die er noch hatte, nicht für Kopfschmerzen nach einem Kater verschwenden, wenn er sie für die Schmerzen in Beinen und Rücken brauchte.

„Wieso war ich bei der Polizei?", fragte er, statt mit Lynn zu diskutieren. Sein Kopf fühlte sich an wie leer gefegt.

„Du wolltest jemanden anzeigen."

„Ich – ", wiederholte Henry. Er starrte Lynn an. „Wen?"

Bitte nicht, bitte nicht, bitte –

„Jemanden, der seit einigen Wochen Kate verfolgt. Angeblich der Verwandte einer Kollegin." Lynns Gesichtsausdruck wurde etwas sanfter, aber für Henry waren ihre Worte wie ein Schlag in die Magengrube.

„Shit!", flüsterte er und biss sich auf die Lippe. Das hätte er nicht tun sollen, nicht tun dürfen.

Und warum bitte hatte er getrunken? Nachdem er Schmerztabletten genommen hatte? War er denn völlig dumm geworden? „Wo ist Kate?", fragte er.

„Pädiatrie. Sie arbeitet", erwiderte Lynn wieder kühler. „Sie weiß noch nichts von dem hier, weil du im Rausch immer wieder gesagt hast, dass sie bloß nichts erfahren soll. So gerne ich es ihr erzählt hätte, muss mich leider an die ärztliche Schweigepflicht halten. An deiner Stelle würde ich es ihr trotzdem sagen. Aber das wirst du ja sowieso nicht machen, hab ich recht?"

Lynns scharfer Sarkasmus zeigte deutlich, wie sauer sie war, wegen dem, was er getan hatte.

„Jedenfalls kannst du jetzt nach Hause gehen." Sie deutete auf seine Kleidung, die eine Schwester auf das Ende seines Bettes gelegt hatte. „Deine Entlassungspapiere kannst du dir an der Aufnahme abholen. Wir brauchen das Bett für echte Patienten."

Mit diesen Worten verließ Lynn den Raum.

Mühsam stand Henry auf und zog den Vorhang rund um sein Bett zu, um sich vor den Blicken der anderen Patienten zu schützen während er sich anzog.

Unter den missbilligenden Blicken seiner Kollegen holte er seine Entlassungspapiere an der Aufnahme ab. Als er sie zusammengefaltet in seine Hosentasche steckte, stieß er dort auf einen anderen Zettel. Er faltete ihn auf und las.

Dafür wird sie büßen. Versuch das nicht noch mal.

Henry bekam eine Gänsehaut, sein Herz begann zu rasen. Er blickte auf, doch er sah niemanden, der ihm den Zettel in die Hosentasche gesteckt haben könnte. Er sah die Person nicht, von der er wusste, dass sie es gewesen war und die er verraten hatte. Zumindest beinahe.

Und jetzt würden sie sich an Kate rächen. Er musste zu ihr!

Aber vorher brauchte er noch eine oder zwei Tabletten, um die nächsten Stunden trotz des bohrenden Kopfschmerzes zu überleben.

Zum Glück fand er in seiner Jackentasche seinen Schlüsselbund, an dem auch der Schlüssel zum Medikamentenschrank der Notaufnahme hing.

Ungesehen versorgte er sich mit einigen Codein-Tabletten und als sein schlechtes Gewissen an ihm zu nagen begann, nahm er sich vor, die Tabletten später zu erstatten. Wenn er Zeit hätte.

Erst dann machte er sich auf den Weg in die Pädiatrie, um zu sehen, ob es Kate gut ging.

Noch im Fahrstuhl legte er sich eine Erklärung zurecht, wieso er im Krankenhaus war, obwohl er heute eigentlich frei hatte und auch nicht zur Physiotherapie musste.

Denn ob sie von seiner Eskapade am Vormittag erfahren würde, stand für ihn nicht zur Debatte.

Was würde sie denn dann von ihm denken? Nein, das konnte er ihr auf keinen Fall erzählen! Es reichte schon dass Lynn und vermutlich die ganze Notaufnahme es wusste.

Als ihm der Geruch von Alkohol in die Nase stieg, hob er den Kopf. Doch im nächsten Augenblick begriff er, dass es wohl an ihm lag. Peinlich berührt begann er, ungeduldig mit den Füßen zu wippen.

Er blickte zu den beiden andern Männern hinüber, die mit ihm schweigend im Fahrstuhl standen.

Den einen erkannt er als Brian Williams, den Vater von Kates Krebspatienten, der mit grimmigem, verschlossenem Gesichtsausdruck auf den Boden starrte.

Auch den anderen Mann, der etwa in seinem Alter war, meinte Henry zu erkennen, aber als er nicht darauf kam, beschloss er, dass er sich getäuscht haben musste.

Die anderen beiden Männer stiegen ebenfalls im dritten Stock aus. Der Doch-nicht-Bekannte wandte sich direkt zur Aufnahme, während Brian Williams erst mal neben Henry stehen blieb.

Henry ließ seinen Blick schweifen, bis er schließlich Kate erblickte, die gerade aus Mikeys Zimmer kam. Er zuckte zusammen, als Mr Williams plötzlich in Richtung Kate los stürzte.

Vorsichtig beobachtend blieb Henry stehen.

„Michael!" Mr Williams stieß die Tür zu dem Zimmer seines Sohnes auf, warf einen Blick hinein und wandte sich dann Kate zu.

Die Worte, die er ihr aufgebracht zu zischte, konnte Henry ebenso wenig verstehen wie ihre Antwort.

Als er Kates hilfesuchenden Blick begegnete, wusste er, dass sie ihn um Hilfe bat, ihn brauchte.

Zumindest denjenigen, der er früher gewesen war.
Nicht das Wrack, das noch von ihm übrig war und das beinahe teilnahmslos zusah, als Brian Williams seiner Frau ins Gesicht schlug.

„Mörderin!", schrie der Mann auf und auf einmal legte er seine Hände an ihren Hals und begann sie zu würgen.

Kate schlug wild um sich und schnappte nach Luft. Ihr verzweifelter Blick traf Henry mitten ins Herz.

Doch er blieb wie angewurzelt stehen, nicht nur psychisch sondern auch physisch unfähig, etwas zu tun, den Blick starr auf die Szene gerichtet, die sich vor ihm abspielte.

„Kath!" Von der Seite stürzte plötzlich der andere Mann aus dem Fahrstuhl dazu und riss Brian Williams von Kate weg, die sich geschockt an den Hals fasste und weinend an der Wand herunter rutschte.

Zwei Krankenschwestern rannten auf sie zu und von der anderen Seite des Ganges kam ein Arzt dazu, der dem Fremden half, Williams von Kate weg zu bringen.

Der Fremde half Kate auf die Beine – und nahm sie in den Arm?! Und sie schmiegte sich auch noch an ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr und ließ sich von ihm auf den Scheitel küssen.

Mit einem verächtlichen Lächeln wandte Henry sich ab.

Das war also die Frau, die versprochen hatte, ihm bis an ihr Lebensende treu zu sein!

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt