Kate streckte ihren Kopf ins Wohnzimmer. „Ich bin dann jetzt weg, Henry", rief sie ihm zu.
Henry sah von seinem Laptop auf, an dem er gerade arbeitete. Er runzelte die Stirn. „Wohin?" Bestimmt hatte sie es ihm schon einmal gesagt, aber es fiel ihm nicht mehr ein.
„Es ist Freitag." Sie lächelte. „Heute ist Jugend."
„Ach ja", murmelte er abwesend, bevor er sich wieder in den Artikel der Online-Fachzeitschrift vertiefte.
„Rebekka macht heute Thema", fügte Kate hinzu.
Er blickte erneut auf, als er realisierte, dass sie immer noch mit ihm redete. „Hm?"
„Rebekka erzählt heute was, in der Jugend. Über Liebesbeziehungen nach biblischem Vorbild."
Er musste zugeben, dass er damit nicht gerechnet hatte. Aber gut. Rebekka war ähnlich selbstbewusst und mutig wie seine anderen Geschwister und lebte das, was sie glaubte. Warum also war er überrascht? „Ah ja."
„Hast du Lust, mitzukommen? Ich weiß, du warst lange nicht mehr da, aber die Jugendlichen freuen sich bestimmt, dich wiederzusehen", ließ sie nicht locker.
Sah sie nicht, dass er beschäftigt war?
„Ein andermal", winkte er ab und hörte selbst seinen gereizten Unterton.
Kate zuckte merklich zusammen. „Ist alles okay?", fragte sie nach.
Henry verdrehte die Augen. „Sieht man das nicht?"
„Nein, ehrlich gesagt nicht." Sie blieb im Türrahmen stehen und machte keine Anstalten, zu gehen. „Also, was ist los, Henry?"
Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Ich arbeite gerade."
„Ich störe also?" Ihre Augen spiegelten ihre Verletztheit wieder, die auch ihrem Tonfall zu entnehmen war.
Meine Güte, musste sie so ein Drama aus allem machen? „Kate", stöhnte er genervt. Sie verdrehte ihm die Worte im Mund herum!
Aber eigentlich hatte sie recht, sie nervte ihn gerade wirklich.
„Ich wollte dich nur einladen, Rebekka hätte sich gefreut."
„Das hab ich verstanden, danke."
„Und dass du seit... deinem Unfall... nicht mehr da warst, ist doch kein Hindernis. Alle würden sich freuen, dich wiederzusehen, immerhin bist du einer ihrer Mitarbeiter."
„Kate!", wies er sie scharf zurecht, als sie gerade Luft holte, um weiterzureden. Sie sah ihn stumm und abwartend an.
Er stand auf und ging zu ihr. „Ich muss noch arbeiten, Kate. Du kannst gerne zur Jugend gehen, ich wünsche dir viel Spaß." Er verschränkte die Arme und blickte auf sie hinab.
„Henry, komm schon. Es ist deine Schwester."
„Ja, und ich hab auch keine Ahnung, warum ausgerechnet sie dieses Thema übernommen hat. Ihre Erfahrungen sind auf dem Gebiet immerhin gleich null." So, da hatte er es ausgesprochen.
Kate sog scharf Luft ein. „Henry!"
„Was?", fuhr er sie an. „Es ist doch wahr!"
„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass deine Schwester dir nicht alles erzählt, was in ihrem Leben zurzeit passiert, weil du als ihr großer Bruder daran keinerlei Interesse zeigst?"
„Pff", machte er verächtlich. Was sollte das denn? „Ich interessiere mich sehr wohl für meine Geschwister!"
„Das gilt vielleicht für die Zeit vor deinem Unfall, Henry, aber ganz bestimmt nicht für die letzten drei Monate!" Ihre Wangen waren leicht gerötet, als sie sich so echauffierte.
„Hör auf, mir vorzuschreiben, wie ich mit meiner Familie umzugehen habe!", erwiderte er wütend.
„Seit unserer Hochzeit ist es auch meine Familie, vergiss das nicht! Außerdem fordere ich dich nur dazu auf, überhaupt mit ihnen umzugehen!" Sie stemmte verärgert die Arme in die Seiten.
„Ach, hör doch auf!" Unwirsch winkte er ab und wollte sich schon von ihr abwenden, als ihm einfiel, dass sie vorhin eine Andeutung gemacht hatte. „Hat Bekky denn einen Freund?"
Kate schnaubte. „Komm doch mit und finde es raus. Dazu wird sie bestimmt heute Abend etwas sagen."
Tatsächlich war er einen Moment gar nicht mehr so abgeneigt, doch mitzukommen, aber Kates herausfordernder Blick weckte seinen Kampfesgeist. Er würde nicht nachgeben, nicht gegen sie diesen Streit verlieren.
„Nein danke. Ich höre mir lieber etwas von jemandem mit ein bisschen mehr Erfahrung an, immerhin will ich ja auch was lernen."
Was als ein Seitenhieb gegen Kate gedacht gewesen war, entwickelte sich zum Selbstläufer gegen seine eigene Schwester.
„Ganz ehrlich, Henry, so wie du momentan drauf bist, könnte dir jeder Laie etwas über Beziehungen erzählen!" Ihre Augen blitzten vor Wut. „Und nur damit du nicht vollkommen an deiner Familie vorbei lebst: Ja, deine Schwester hat einen Freund, der sich im Übrigen vor drei Wochen bekehrt hat."
Gut, damit hatte er nicht gerechnet. Perplex blickte er Kate an. Dann trat er einen Schritt auf sie zu und hielt sie an den Oberarmen fest. Irgendwie hatte er Angst, dass sie sonst einfach gehen würde.
„Wie heißt er? Wie alt ist er? Was macht er von Beruf?", wollte er wissen. Wieso hatte Bekky ihm nichts erzählt?
„Ach, jetzt auf großen Bruder tun?" Kate riss sich los. „Komm mit oder ruf sie an."
Er kniff die Augen zusammen. Versuchte sie gerade ernsthaft ihn zu erpressen? „Weißt du was, Kate. Vergiss es einfach!" Er wandte sich ab, um zu seinem Laptop zurückzugehen.
„Schon klar. Lass den stolzen, arroganten, egoistischen Henry raushängen, das bin ich ja mittlerweile gewohnt! Vielleicht ist es gut, dass deine Schwestern dich nicht so sehen!"
Mit wenigen Schritten war er wieder bei ihr. „Hör auf!", forderte er bestimmt.
„Natürlich, es ist wieder meine Schuld, wie immer. Du würdest ja niemals einsehen, dass du vielleicht auch etwas falsch gemacht hast", fauchte sie wütend.
Ein sarkastisches Lächeln spielte um Henrys Lippen. „Weißt du was, Kate? Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst."
Sie versteifte sich kaum merklich. „Du kommst also nicht mit?", fragte sie nach einigem Zögern.
„Nein."
„Soll ich sie von dir grüßen?"
Er zuckte mit den Schultern. Eigentlich war ihm das egal. „Kannst du machen."
Sie nickte. „In Ordnung. Dann bis heute Abend."
„Ja", antwortete er gleichgültig und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Wenig später hörte er, wie seine Frau das Haus verließ.

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Whatever It Takes
Fiksi RemajaEs ist ein Jahr her, dass Henry O'Ryan Kate McKinnley heiratete und noch immer ist sie die Frau seines Lebens - bis ein Unfall das Leben des jungen Ehepaars komplett auf den Kopf stellt. Henry sitzt im Rollstuhl - doch als wäre das nicht genug, wird...