75. Kapitel

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„Bitte, Daniel! Ich muss zu ihm!" Kate versuchte, an Daniel vorbeizukommen, der zwischen ihr und dem Behandlungszimmer stand und sie daran hinderte, zu ihrem Mann zu gehen.

„Kate, hör mir zu." Daniel hielt ihre Oberarme fest und blickte sie ernst an. „Ich glaube, es ist für Henry gerade besser, wenn du erst mal nicht da bist. Ich weiß, das klingt hart, aber ich denke nicht, dass er will, dass du ihn so siehst."

Kate holte zitternd Luft. „Jetzt nicht oder länger nicht?"

Seit sie die Nachricht bekommen hatte, dass Henry mit einer Überdosis im Krankenhaus lag, hatte sie überlegt, wie sie ihm gegenübertreten sollte. Was erwartete er, wie sie sich verhielt? Er hatte sich immerhin fast umgebracht!

Lynn hatte ihr erzählt, dass Henry 20 Minuten hatte reanimiert werden müssen – unter anderem von Amber, die ihn mit Atemstillstand am Fuß der Treppe in ihrem Haus gefunden hatte.

„Fürs erste nicht." Daniel zögerte. „Da wir hier in der Nähe keine Entzugsklinik haben, werde ich wohl einen kalten Entzug mit ihm bei euch Zuhause machen. So kann er in deiner Nähe bleiben und muss nicht nach Amarillo oder noch weiter weg."

„Daniel!" Kate keuchte auf. „Du weißt, was das bedeutet?"

„Ja", nickte er. „Ich schaffe das schon, Kate. Ich habe sowas schon mal gemacht." Der Tonfall seiner Stimme verriet, dass er nicht wollte, dass sie weiter nachfragte.

„Was, wenn er das nicht will?" Immerhin hatten sie und Henrys Familie oft genug versucht, mit ihm zu reden und er hatte jedes Mal abgeblockt.

„Rein rechtlich gesehen hätten wir das Recht, ihn auch ohne seine Zustimmung in eine Entzugsklinik einzuweisen, da er zur Gefahr für sich selbst geworden ist und damit in seinen Entscheidungen in Bezug auf seine eigene Gesundheit nicht voll zurechnungsfähig."

Kate fuhr sich durch die Haare. Sie fühlte sich hoffnungslos überfordert, hin- und hergerissen zwischen ihren Gefühlen, die sie zu Henry hinzogen, und ihrem Verstand, der ihr sagte, dass Daniel recht hatte.

„Okay", rang sie sich schließlich ab. „Aber ich will nicht, dass er denkt, ich wäre nicht bei ihm, weil ich ihn nicht liebe, wegen unseres Streites oder weil ich einfach nicht bei ihm sein will. Bitte sag ihm das."

Daniel nickte. „Natürlich." Er schloss sie in seine Arme. „Du bist unglaublich tapfer, Kate."

Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd und klammerte sich hilfesuchend an ihm fest. Sie fühlte sich nicht tapfer, eher, als hätte sie versagt. Wäre sie da geblieben, wäre das alles trotzdem passiert?

Als Daniel sie schließlich los ließ und wieder in den Behandlungsraum zu Henry ging, fühlte sie sich unglaublich alleine. Sie verschränkte die Arme und blickte durch die Glasscheiben in der Doppeltür in den Raum.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist."

Kate wandte sich nicht um, als Amber sich neben sie stellte.

„Es wird ihm wieder gut gehen. Dr. Parker wird ihm helfen." Die Unsicherheit und das Zittern in der Stimme der jungen AIPlerin veranlassten Kate, sie doch anzublicken. Tränen liefen über Ambers Wangen.

Kate konnte nicht anders, als die junge Frau in den Arm zu nehmen. Sofort begann Amber, hemmungslos zu schluchzen. „Es tut mir so leid, Mrs O'Ryan!"

„Scht", machte Kate leise und strich ihr in sanften Bewegungen über den Rücken. „Du hast alles getan, was du konntest. Du hättest es genauso wenig verhindern können, wie ich."

„Nein, ich – ..."

„Kate!"

Kate wandte sich um, als Lary ihren Namen rief. Die Schwester kam aus dem Behandlungszimmer auf sie zugelaufen und schloss sie ohne weitere Worte in die Arme.

„Wie geht es ihm?", fragte Kate und wischte sich die Tränen von den Wangen.

„Erstaunlich gut", antwortete Lary und Kate wusste, dass die Krankenschwester das nicht sagen würde, wenn es nicht wirklich so wäre. Lary nahm nie ein Blatt vor den Mund.

Gemeinsam mit Dr. Stanley und Lynn hatte sie Henry behandelt. „Wir haben zum Glück alles in den Griff bekommen. Sein Gehirn war gerade so nicht zu lange ohne Sauerstoff. Von dem Sturz hat er sich die Rippen geprellt und einige Blutergüsse, aber das wird alles heilen. Insgesamt ist er echt gut davongekommen."

Kate atmete auf. „Danke, Lary."

„Kein Ding." Die Krankenschwester lächelte mitfühlend. „Wenn ich noch was für dich tun kann, sag Bescheid. Ich muss jetzt weiterarbeiten, aber mach dir keine Sorgen, Henry wird wieder. Er ist ein Kämpfer."

Kate nickte. Lary ging mit einem letzten aufmunternden Lächeln zu ihrem nächsten Patienten, aber Amber blieb neben ihr stehen. Kate hatte das Gefühl, dass die junge Frau ihr noch etwas sagen wollte und als sie nach einigen Minuten immer noch schwieg, legte sie ihr eine Hand auf den Arm. „Was ist los, Amber?", fragte sie sanft.

Mit Tränen in den Augen blickte Amber sie an.

„Amber?"

„Mrs O'Ryan, ich – ..." Sie stockte. „Ich muss Ihnen etwas sagen."

Kate blickte sie prüfend an. „Okay. Setzen wir uns in die Cafeteria?"

Amber nickte zaghaft. „In Ordnung."

Als sie an der Aufnahme vorbei gingen, legte plötzlich Lary von hinten eine Hand auf ihre Schulter. „Kennst du den Typen dahinten?", fragte die Schwester leise. „Der starrt dich die ganze Zeit an."

Kate folgte Larys Blick zum Snackautomaten auf dem Gang, an dem ein Mann in Lederjacke, Jeans und Sportschuhen lehnte und sie ungeniert anblickte, obwohl ihm klar sein musste, dass sie ihn entdeckte hatten. Es war der Mann aus dem Einkaufszentrum. Der Mann, den sie seit Wochen überall sah.

„Warte bitte kurz hier, Amber", wies sie die AIPlerin an und ignorierte ihren überraschten Blick.

Kate setzte ein gelassenes Lächeln auf und steuerte dann auf den Mann zu, der nicht einmal versuchte, abzuhauen, sondern ruhig abwartete, bis sie mit in die Seiten gestützten Armen stehen blieb. Sie war sich mit ihren 1,72m noch nie so klein vorgekommen, wie in diesem Augenblick.

„Ja?", fragte der Mann kühl – der erstaunlicherweise höchstens fünf Jahre älter als sie zu sein schien, wie sie aus der Nähe feststellte –und blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen abwartend an.

„Wieso beobachten Sie mich?", zischte Kate aufgebracht. Weg war die aufgesetzte Gelassenheit.

„Ich mache was?", fragte der Mann gedehnt.

„Das wissen Sie ganz genau! Hören Sie auf, mich zu beobachten, oder ich rufe die Polizei!"

Ein Lächeln spielte um seine Lippen. „Du rastest selten so aus, Kate. Oder sollte ich lieber Kath sagen? Oder Katy? Oder doch lieber den ganzen Namen nehmen, Katherine Louise Elizabeth Victoria O'Ryan?"

Kate starrte den Mann entsetzt an. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Sie bekam es mit der Angst zu tun. „Für Sie Dr. O'Ryan", brachte sie mühsam beherrscht vor.

Hilfesuchend blickte sie sich um.
Lary stand noch immer an der Aufnahme, allerdings mit dem Rücken zu ihr. Amber hingegen war nicht mehr da.

„Na dann, Doc, wünsche ich dir einen schönen Tag." Er lächelte. Er lächelte.

„Hören Sie auf, mich zu beobachten! Und lassen Sie meine Familie in Ruhe!", schrie Kate. Auf dem Gang drehten sich einige Menschen zu ihr um, Patienten und eine Krankenschwester.

Mit einem spöttischen Grinsen salutierte der Mann. „Aber natürlich Ma'am."

Als sie sich wortlos abwandte, hörte sie, wie er etwas leiser ein „nicht" hinterher schob.

Kate fröstelte.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt