Henry blickte überrascht von seinem Buch über Onkologie auf, das er Kate zuliebe las, als Amber in der Küche erschrocken aufschrie und er hörte, wie Metall auf den Fließen aufschlug.
„Amber?" Er lauschte.
Stille.
„Ist alles okay?"
„Mir ist der Topf mit heißem Wasser runter gefallen." Ambers Stimme zitterte. „Ich hab es mir über den Arm gekippt."
Henry warf einen Blick auf seinen Rollstuhl, den Amber vorhin neben das Sofa geschoben hatte, auf dem er saß. Er zögerte.
Die AIPlerin schluchzte leise in der Küche. Cookie stand aus seinem Körbchen auf, witterte und tappte dann in die Küche.
„Amber?", fragte Henry und bekam ein zögerndes „Ja?" als Antwort. „Komm her, ich schau mir das mal an."
Er hörte, wie sie aufstand, dann ein dumpfes und schließlich ein schabendes Geräusch, als hätte sie sich gegen die Wand gelehnt und wäre daran herunter gerutscht.
„Amber?", fragte er erneut.
„Mir ist schwindelig", hörte er leise die Stimme seiner Studentin – Lynns Studentin, verbesserte er sich schnell.
Er konnte ihr nicht helfen, stellte er bitter fest und warf seinem Rollstuhl einen vernichtenden Blick zu.
Versuch es.
„Gott", stöhnte Henry mit zusammengebissenen Zähnen. „Das ist nicht dein Ernst!"
Du weißt genau, dass ich das nicht schaffen kann. Ich müsste stehen und sogar einen Schritt machen, fügte er in Gedanken hinzu.
Die Physiotherapeutin hatte ihm noch zwei Tage gegeben, dabei aber nicht sonderlich zuversichtlich gewirkt.
Andererseits: es nicht zu versuchen, bedeutete aufzugeben.
Willst du das?
Henry zögerte.
Du bist ein Kämpfer, Henry.
„Okay." Henry biss sich auf die Lippe. Er schob sich mit den Armen so weit wie es ging zum Rand des Sofas. Als er zögerte prasselten erneut seine Ängste auf ihn ein.
Henry atmete tief durch und begann dann vorsichtig, immer mehr seines Gewichtes auf seine Beine zu verlagern.
Er schaffte es tatsächlich, für einige Sekunden zu stehen, doch sofort gaben seine Beine unter ihm nach und er fiel wieder auf das Sofa zurück.
Mit einem leisen Stöhnen rieb er sich über die von der kurzen Anstrengung schmerzenden Oberschenkel. Seine Muskeln waren trotz der täglichen Physiotherapie keinerlei wirkliche Bewegung mehr gewohnt.
Aber Schmerzen waren gut.
Schmerzen bedeuteten, dass er etwas fühlte.
Sein Kampfgeist war geweckt. Entschlossen setzte er sich wieder auf die Kante des Sofas.
„Ich komme gleich, Amber. Atme tief durch und wenn du aufstehen kannst, dann halt den Arm unbedingt unter kaltes Wasser."
Henry machte sich bereit und stemmte sich erneut auf die Füße.
Es gelang ihm tatsächlich, einen Schritt zur Seite zu machen, bevor seine Beine erneut unter ihm nachgaben und er wieder zurück fiel – diesmal allerdings direkt in seinen Rollstuhl.
Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er gerade einen ganzen Schritt gegangen war. Fassungslos blickte er auf seine Beine.
„Danke", flüsterte er. Eine Träne lief über seine Wange und tropfte auf seinen Arm.
Er blickte aus dem Fenster. Es hatte begonnen, zu schneien. Die dicken Eiskristalle wurden vom Wind gegen die Scheiben geweht und hatten die Straße vor ihrem Haus innerhalb der letzten halben Stunde in eine Rodelbahn für Kinder verwandelt.
Als Henry sich endlich auf den Weg zu Amber machte, spürte er, dass sich neue Hoffnung in ihm ausbreitete, wie ein Sonnenstrahl, der endlich durch den Panzer um sein Herz hindurch drang und das Eis darin zum Schmelzen brachte.
DU LIEST GERADE
Whatever It Takes
Teen FictionEs ist ein Jahr her, dass Henry O'Ryan Kate McKinnley heiratete und noch immer ist sie die Frau seines Lebens - bis ein Unfall das Leben des jungen Ehepaars komplett auf den Kopf stellt. Henry sitzt im Rollstuhl - doch als wäre das nicht genug, wird...