69. Kapitel

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Auch im neuen Jahr kehrte Kate nicht nach Hause zurück.

Der erste Januar neigte sich bereits dem Ende zu und noch immer wartete Henry vergebens darauf, dass seine Frau sich bei ihm für ihr Verhalten entschuldigen und ihn bitten würde, wieder bei ihm einziehen zu dürfen, doch es passierte nichts – und damit genau das, was er geahnt hatte.

Henry fiel auf, wie er immer neue Ausreden erfand, nicht Zuhause sein zu müssen. Er machte Überstunden, arbeitete länger für Candys Shop, ging einfach so spazieren oder fuhr mit dem Auto die Strecke bis nach Brendshire, nur um dann wieder umzukehren.

Zuhause war es leer ohne Kate und Amber musste, wenn sie nach Hause kam, für Prüfungen lernen oder sich auf eine Operation vorbereiten.

Er war alleine.

Seine Freunde hatten begonnen, ihn zu meiden.

Als erstes war ihm das bei Lynn aufgefallen, die noch immer der Meinung war, er nähme mehr Medikamente, als er nötig hätte. Aber sie hatte ja keine Ahnung von den Schmerzen, die er hatte, wenn er nichts nahm!
Als nächstes hatte sie Daniel von ihm distanziert. Das fiel Henry besonders schwer zu akzeptieren, immerhin war Daniel sein bester Freund hier in Whitingham. Aber er hielt nun mal zu seiner Schwester und zu Kate. So wie eigentlich alles es taten.
Selbst seine Familie, da war er sich sicher.

„Dr. O'Ryan, schlafen Sie? Ich rede mit Ihnen!"

Henry blickte von seinen Akten auf, die er angestarrt hatte, während seine Gedanken abgeschweift waren. „Hm? Was?"

„Sie sind schon den ganzen Tag so abwesend. Werden Sie krank?" Dr. Stanley wollte an seiner Stirn nach Fieber fühlen, aber Henry wich zurück.

„Was soll das, Mann?", fuhr er den älteren Arzt gereizt an.

Dr. Stanleys Miene versteinerte sich. „Beruhigen Sie sich, Henry. Ich bin Ihr Vorgesetzter, denken Sie daran."

Na und? „Das ist mir doch egal! Sie haben kein Recht mich anzufassen!" Was maßte dieser Mann sich eigentlich an?

„Es tut mir leid, Henry. Bitte messen Sie Fieber und wenn Sie krank sind, gehen Sie nach Hause." Dr. Stanley wandte sich ab. Er schien eine Konfrontation vermeiden zu wollen.

„Vergessen Sie's!", murmelte Henry leise.

Dr. Stanley blieb stehen. „Wie bitte?"

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Oberarzt seine Worte gehört hatte. Trotzdem bot Dr. Stanley ihm die optimale Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen und unbeschadet aus der Sache rauszukommen.

„Sie sollen es vergessen", wiederholte Henry deutlicher.

Dr. Stanley verschränkte die Arme und baute sich vor ihm auf. „Sie gehen jetzt nach Hause, Henry und wenn Sie morgen wiederkommen, sollten Sie hoffen, dass ich das alles vergessen kann."

Lynn trat zu ihnen und berührte ihn leicht am Arm. „Henry", mahnte sie leise und deutete mit dem Kopf in Richtung Ärztezimmer. „Können wir kurz reden?"

Was wollte sie denn jetzt auch noch von ihm? „Lynn, lass mich in Ruhe. Du hast keine Ahnung von nichts, also tu auch nicht so als wäre es anders!"

Lynn sog scharf Luft ein. „Henry!"

„Henry!", äffte er sie nach. Meine Güte, wie sie nervte! Begriff sie das nicht?

„Henry, sehen Sie mich an", forderte Dr. Stanley ruhig.

Henry kam seiner Aufforderung nach.

„Sie müssen Ihr Verhalten in den Griff bekommen, sonst können Sie hier nicht länger arbeiten. Das ist eine Notaufnahme. Wir retten Menschen, wir fügen keinen neuen Schaden zu. Keine Frage, Sie sind ein brillanter Arzt, das haben Sie erst heute wieder unter Beweis gestellt. Aber sollten Ihre Kollegen recht haben und Sie sind schmerzmittelabhängig, wonach es mir ganz aussieht, kann ich Sie nicht länger hier arbeiten lassen."

„Was heißt das?" Henry biss den Kiefer zusammen.

Wurde er jetzt gefeuert?
Keine Frage, Lynn hatte geplaudert, sie war schuld!

„Das heißt, dass Sie bis auf weiteres suspendiert sind. Holen Sie Ihre Sachen, gehen Sie nach Hause und kümmern Sie sich um einen Entzug. Wenn Sie das schaffen, werde ich Sie hier wieder mit offenen Armen empfangen, als der talentierte Arzt, der Sie sind. Aber Sie jetzt hierzubehalten, wäre verantwortungslos."

„Sie schmeißen mich raus", wiederholte Henry abfällig.

„Sie sind nicht gefeuert, Henry. Wenn Sie möchten, informiere ich mich gerne für Sie über eine Entzugsklinik in der Nähe und kümmere mich um die Details."

„Nein danke."

„Also machen Sie es selbst?", ließ Dr. Stanley nicht locker.

„Ich mache was ich für richtig halte, halten Sie sich da raus!", fauchte Henry. Er wandte sich wütend ab, holte seine Sachen und verließ die Notaufnahme.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt