70. Kapitel

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Bereits nach zwei Stunden Zuhause war ihm langweilig. Was sollte er auch groß tun? Lesen war noch nie sein größtes Hobby gewesen, die Filme und die er besaß, kannte er alle. Also war er alleine mit seinen Gedanken.
Eine beunruhigende Vorstellung.

Geräusche im Flur verrieten, dass Amber vom Einkaufen zurück sein musste – etwas, dass sie ohne zu klagen zusammen mit den restlichen Haushaltsaufgaben übernommen hatte, seit Kate ausgezogen war.

Henry war wirklich dankbar, dass die junge AIPlerin da war, denn sonst hätte er sich vermutlich nur mit Tiefkühlpizza durchgeschlagen, bis Kate wieder zurückkehrte.

Dass sie wiederkommen würde, daran zweifelte er nicht. Sie brauchte ihn, genau wie er sie brauchte, das merkte er in den letzten Tagen immer wieder.

„Henry?"Amber kam ins Wohnzimmer, nachdem sie die Einkäufe in der Küche abgestellt hatte. „Hätten Sie nachher nochmal Zeit, mit mir die Notfall-OP von heute durchzugehen? Ich würde gerne genau wissen, was ich hätte besser machen sollen."

Henry nickte. „Natürlich."

Es war eine ungewohnte Mischung, dass sie ihn siezte und gleichzeitig mit Vornamen anredete, aber er hatte nichts dagegen. Immerhin lebten sie zusammen unter einem Dach und waren gleichzeitig Schüler und Lehrer – da gab es nichts, das nicht komisch gewesen wäre. Für Außenstehende natürlich nur. Wie Kate, fiel ihm ihr Gespräch über Amber wieder ein.

Anscheinend war sie immer mehr zu einer Außenstehenden geworden.

„Mach dir keine Sorgen, Amber. Sowas passiert jedem Mal. Es hat den Patienten ja nicht umgebracht und auch nicht dauerhaft geschädigt."

„Aber das auch nur gerade so nicht", murmelte Amber und senkte den Blick. „Wenn Sie nicht dagewesen wären..."

„Amber." Henry trat zu ihr und hob ihr Kinn an. „Du sollst doch lernen. Deswegen bist du ja AIPlerin und noch nicht Ärztin."

„Ja", murmelte Amber langgezogen. Sie schien nicht ganz überzeugt zu sein. Dennoch lagen ihre Augen voll Bewunderung auf ihm und Henry kam nicht drum herum, sich geschmeichelt zu fühlen.

Kate empfand so etwas bestimmt nicht für ihn... keine Bewunderung. Aber Amber...

Vorsichtig hob Henry eine Hand und legte sie an Ambers Wange. Wenn Kate ihn nicht mehr so ansah, nicht mehr so für ihn empfand, dann konnte er wohl genauso gut die Worte, die für sie bestimmt gewesen waren, an jemand anderen verschwenden.

„Du bist wunderschön", sagte er leise und strich Amber einige ihrer hellen Haare aus dem Gesicht.

Es gefiel ihm, dass sie in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil von Kate war: blond, grüne Augen, aufgeweckt, spontan und ein wenig leichtsinnig.

Henry nahm mit Genugtuung wahr, wie Amber leicht zitterte, als er näher auf sie zu trat und seine Hände auf ihre Taille legte.

„Henry", flüsterte sie, doch er legte einen Finger auf ihre Lippen.

„Scht", machte er. Mit dem Daumen fuhr er sanft die Konturen ihrer Lippen nach, beugte sich langsam vor und...

In diesem Augenblick hörte er, wie im Flur die Tür geöffnet wurde.

Henry erstarrte, während Amber geistesgegenwärtig einen Schritt von ihm zurücktrat und nach dem Buch über Innere Medizin griff. Sie verschränkte die Arme in einer Art Abwehrhaltung um das Buch.

„Henry?" Kate betrat das Wohnzimmer. Ihr Blick schien die Situation zu erfassen – die definitiv keine war! – und blieb schließlich auf ihm liegen. Zweifellos war ihr Ambers hochrotes Gesicht aufgefallen, vermutete er, als sie fragend die Stirn runzelte. „Tut mir leid, dass ich einfach so reinplatze, aber hast du vielleicht kurz Zeit?"

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt